28.04.2011

Regel 4: Gott kann nur im Herzen gefunden werden

You can study God through everything and everyone in the universe, because God is not confined in a mosque, synagogue or church. But if you are still in need of knowing exactly where his abode is, there is only one place to look for him: in the heart of a true lover.

Du kannst Gott durch alles und durch jeden im Universum studieren, weil Gott nicht auf eine Moschee, Synagoge oder Kirche beschränkt ist. Aber wenn du es noch immer brauchst, genau zu wissen, wo seine Bleibe ist, gibt es nur einen Ort, wo er gesucht werden kann: Im Herzen eines wahrhaften Liebenden.

Jeder Mystiker geht über die Unterschiede und Besitzansprüche der einzelnen Religionen hinaus. Er geht aber auch über definierte Gottesbilder und traditionelle Anbetungsformen hinaus. Er knüpft dabei an das schamanische Wissen der ersten tribalen Bewusstseinsstufe an und verbindet es mit der universalistischen Bewusstseinsebene: Alles in der Natur ist heilig und göttlich, und alles ist mit allem verbunden. Deshalb beschränkt sich die Präsenz des Göttlichen nicht auf bestimmte Orte oder Gebäude.

Die Mystikerin spannt den großen Bogen über alle Bewusstseinsschichten. Deshalb wurde und wird sie häufig als Bedrohung gesehen, angegriffen und verfolgt. Sie überfordert die Menschen in ihrer Engstirnigkeit und Ängstlichkeit und deshalb bekämpfen sie sie.

Solange Menschen primär nach Sicherheit suchen, sind sie von ihren Ängsten beherrscht. Sie brauchen etwas, an dem sie ihre Hoffnungen auf Befreiung festmachen können: Symbole, fixe Regeln und Rituale ebenso wie Orte, an denen das Heilige mit Garantie gefunden werden kann.

Der Mystiker fordert die eingefahrenen Gewohnheiten des Verhaltens, des Denkens und des Glaubens heraus. Das macht ihn unbeliebt. Seine Schwierigkeit besteht darin, die Menschen, die sich fest in einer bestimmten Bewusstseinsschicht eingegraben haben, zu einem gigantischen Sprung zu motivieren, mit dem sie sich aus ihrem Elend katapultieren könnten. Häufig fehlt ihm die Kenntnis der Zwischenschritte, die die Menschen in ihrer Entwicklung auf der individuellen und kollektiven Ebene noch durchlaufen muss, bis sie reif sind für die wahrhafte Liebe.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.




25.04.2011

Regel 3: Die innere Bedeutung der Lehren

Each and every reader comprehends the Qur’an on a different level in tandem with the depth of his understanding. There are 4 levels of insight. The first level is the outer meaning and it is the one that the majority of people are content with. Next is the Batin- the inner level. Third there is the inner of the inner. And the fourth level is so deep it cannot be put into words and is therefore bound to be indescribable. Scholars who focus on the Sharia know the outer meaning. Sufis know the inner meaning. Saints know the inner of the inner. The fourth level is known by prophets and those closest to God. So don’t judge the way other people connect to God. To each his own way and his own prayer. God does not take us at our word but looks deep into our hearts. It is not the ceremonies or rituals that make a difference, but whether our hearts are sufficiently pure or not.

Jeder einzelne Leser begreift den Qur’an auf einer unterschiedlichen Ebene hinter der Tiefe seines Verständnisses. Es gibt vier Ebenen der Einsicht. Die erste Ebene ist die äußere Bedeutung, und sie ist diejenige, mit der die Mehrheit der Menschen zufrieden ist. Dann kommt das Batin – die innere Ebene. Drittens gibt es das Innere des Inneren. Und die vierte Ebene ist so tief, dass sie nicht in Worte gefasst werden kann und daher unbeschreibbar bleiben muss. Gelehrte, die sich auf die Sharia konzentrieren, kennen die äußerliche Bedeutung. Sufis kennen die innere Bedeutung. Heilige kennen das Innere des Inneren. Die vierte Ebene ist den Propheten bekannt und jenen, die Gott am nächsten sind. Also beurteile nicht die Weise, wie sich andere Menschen mit Gott verbinden. Jedem seine eigene Weise und sein eigenes Gebet. Gott nimmt uns nicht beim Wort, sondern schaut tiefer in unsere Herzen. Es sind nicht die Zeremonien oder Rituale, die den Unterschied machen, sondern ob unsere Herzen ausreichend rein sind oder nicht.

Was hier über den Koran bemerkt wird, gilt natürlich auch für die anderen heiligen Bücher und Schriften in anderen Religionen und Traditionen. Vom Modell der Bewusstseinsstufen aus betrachtet, befinden wir uns bei der ersten Ebene der Einsicht auf der hierarchischen Stufe. Spirituelles und geistiges Wissen wird hier als Herrschaftswissen eingerichtet. Aus den heiligen Schriften werden Gesetze abgeleitet, um das Verhalten der Menschen zu steuern und zu regulieren. Die Menschen sollen sich bei Fehlverhalten nicht nur vor den Strafen der weltlichen Gerichte fürchten, sondern auch vor den jenseitigen Ahndungen, wie schon im Kommentar zur zweiten Regel angemerkt wurde. Seit der Aufklärung, die im Westen viel stärkere Folgen hatte, weil sie hier auf der materialistischen Bewusstseinsschicht aufbauen konnte, ist die Verquickung von Kirche und weltlichen Unterdrückungs- und Herrschaftssystemen einer der Hauptpunkte an der Kritik an den Religionen und hat zur Verbreitung des Atheismus geführt. Karl Marx hat z.B. die Formel der Religion als „Opium des Volkes“ geprägt, dass also die Religion dazu missbraucht wird, die Menschen vom Unrecht, unter dem sie leiden, abzulenken und auf das Jenseits zu vertrösten, in dem dann alles Unrecht und jede Ausbeutung ausgeglichen würde.

Deshalb betrachtet der Westen die islamische Welt und insbesondere die Staaten, die die Sharia als Rechtssystem verwenden, mit besonderem Misstrauen. Wir sehen allerdings, dass es auch innerhalb des Islams eine Kritik an der äußerlichen Auslegung der heiligen Schriften gibt. Sobald die wörtliche Auslegung der Texte und die daraus abgeleiteten Regeln für die Gesellschaft verlassen werden, werden diese nicht, wie die Aufklärung angenommen hat, bedeutungslos, sondern offenbaren eine „innere Bedeutung“. Diese ist nicht mit einem Gottesbild der Angst und Strafe (vgl. Regel 1) zugänglich, sondern nur mit der „Logik des Herzens“ (Blaise Pascal), also mit der besonderen Kraft der Liebe und der menschlichen Verbundenheit. Dann verschwindet die Tendenz der Verurteilung anderer Glaubensformen von selber, jede Weise des Glaubens wird akzeptiert und als besonderer Weg zu Gott verstanden. Die Inquisition wird in die dunklen Seiten der Geschichte verbannt und der Begriff der Ketzerei wird bedeutungslos.

Und wir finden eine Form der Toleranz, die ihre Begründung in einer vertieften Form der Religiosität, und nicht in der formalen Gleichheit der Menschen gemäß dem materialistischen Weltbild findet. Wer die anderen Menschen mit dem Blick des Herzens betrachtet – oder, in moderner Wissenschaftssprache – im Modus des smarten Vagus des vegetativen Nervensystems, der wird es nicht zuwege bringen, andere Menschen wegen ihrer Art der Suche nach Gott zu bekämpfen oder abzulehnen, im Gegenteil, er wird wissen, dass jede Verurteilung einer anderen Person eine Abwendung vom eigenen spirituellen Weg, eine „Verunreinigung“ des eigenen Herzens bedeutet.

In einem Buch von Reishad Feild habe ich die folgende Geschichte gefunden:
 
In einer Hafenstadt lebt ein Imam, der für seine Gottesfürchtigkeit und gesetzestreue Frömmigkeit bekannt und angesehen ist. Er erfährt, dass auf einer Insel vor der Küste ein Einsiedler lebt, und beschließt, diesen zu besuchen, um zu überprüfen, ob sich dieser auf dem richtigen Weg des Glaubens befindet. So setzt er sich in ein Boot und rudert auf die Insel. Dort angekommen, hört er den Derwisch beten. Als er näher kommt, bemerkt er, dass jener die Anbetungsformel Gottes umgedreht hat und betet: „ilAllah la ilaha“ statt  „La ilaha ilAllah“ (Es gibt keine Gottheit außer Gott).
Ui, ui, das kann nicht gut gehen, da wird Gott zornig sein, wenn er das hört. Also geht er zu dem Derwisch und erklärt ihm, was er falsch macht und wie es richtig geht. Dieser bedankt sich und verspricht, ab nun richtig zu beten. Zufrieden wendet sich der Imam zum Gehen, steigt in sein Boot und rudert zurück. Er hat wieder etwas in dieser verwirrten Welt in Ordnung gebracht und einem Menschen zum rechten Weg verholfen. Auf halbem Weg zurück zur Hafenstadt traut er seinen Augen nicht: Da bewegt sich etwas auf der Wasseroberfläche auf das Boot zu, es ist der Derwisch, der auf den Wellen läuft, als wären es Sanddünen. Außer Atem kommt er beim Boot an und sagt: Entschuldige, geschätzter Imam, ich bin so vergesslich und bin mir jetzt nicht mehr sicher, wie die Anbetungsformel richtig lautet. Erkläre es mir noch einmal, dann merke ich es mir sicher.




Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.



Regel 2: Lass dein Herz dein wichtigster Führer sein

The Path to the Truth is a labour of the heart, not of the head. Make your heart your primary guide. Not your mind. Meet, challenge, and ultimately prevail over your nafs (false ego) with your heart. Knowing your ego (higher self/soul) will lead you to the knowledge of God.

Der Weg zur Wahrheit ist eine Arbeit des Herzens, nicht des Kopfes. Mache dein Herz zu deinem ersten Führer. Nicht deinen Verstand. Begegne deinen Nafs (falschen Egos), fordere sie heraus und überwinde sie schließlich – mit deinem Herzen. Im Wissen, dass dich dein Ich (höheres Selbst/Seele) zum Wissen um Gott führen wird.

Für viele Sucher ist es klar, dass die letzten Wahrheiten nicht im Verstand zu finden sind. Dazu ist der menschliche Verstand nicht geschaffen. Er kann nur innerhalb begrenzter Kontexte sinnvolle Ideen entwickeln und verfängt sich leicht in Selbstbespiegelung und Nabelbeschau. Wenn wir unseren Verstand nicht in seine Grenzen verweisen können, brauchen wir gar nicht erst auf eine spirituelle Suche gehen. Wir können ihn allerdings erst dann in seine Grenzen verweisen, wenn wir seine Verdienste würdigen und seine Stärken nutzen.

Schwieriger zu verstehen ist die Arbeit des Herzens. Damit ist nicht die Arbeit der Gefühle gemeint, obwohl diese auch sehr wichtig ist. Das Herz ist der symbolische Sitz der Liebe, und die Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Haltung, eine innere Ausrichtung.

Diese Einstellung können wir nur erwerben, wenn wir uns unseren Schattenseiten stellen, die Aspekte unserer Persönlichkeit, die wir entweder ablehnen oder allzu sehr verherrlichen. Das sind Aspekte, die sich in unserem Inneren festgesetzt haben als Folgen von unaufgelösten Traumatisierungen im Lauf unseres Lebens und dem unserer Vorfahren. Die Arbeit besteht darin, die Angst, die mit solchen unbewältigten Erfahrungen verbunden ist, durch Liebe zu ersetzen. Technisch gesprochen, geschieht dies darin, dass die bewusste Aufmerksamkeit, die im Trauma aus der unmittelbaren Erfahrung abgezogen wurde, wieder mit dieser vereint wird. Damit gelingt es, den auf solche Erfahrungen gegründeten Ego-Anteile die Macht zu nehmen und sie zu überwinden.

Was uns bei dieser Arbeit leitet, ist die Gewissheit, die wir in unserem Inneren spüren können, dass wir auf diesem Weg zur Erfüllung kommen. Wir verbinden uns mit der evolutionären Kraft, die in uns als Individuen, in den verschiedenen Kulturen ebenso wie in der gesamten Menschheit wirkt und vorwärts drängt zur Universalität, die wir mit Gott verbinden.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

24.04.2011

Regel 1: Unser Gottesbild ist unser Selbstbild

Die türkische Autorin Elif Shafak entfaltet in ihrem Roman  “The Forty Rules of Love” (2010 - wird 2012 im Droemer-Verlag auf Deutsch erscheinen) die Grundlagen der Lehre der Sufis, der Mystiker des Islams anhand von 40 "Regeln der Liebe". Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren inspiriert. www.elifshafak.com
Angeregt von diesen Regeln habe ich kommentierende Text erstellt, die sich auf diesem Blog finden und freue mich über eure Kommentare.
Dabei nehme ich immer wieder Bezug auf das Modell der Bewusstseinsentwicklung, das ich in meinem Buch: "Vom Mut zu wachsen. Sieben Stufen der integralen Heilung" (September 2011 Kamphausen Verlag) beschreibe.  

Regel 1:
How we see God is a direct reflection of how we see ourselves. If God brings to mind mostly fear and blame, it means there is mostly fear and blame welled inside us. If we see God as full of love and compassion, so are we.

Wie wir Gott sehen, ist eine direkte Reflexion dessen, wie wir uns selbst sehen. Wenn wir bei Gott hauptsächlich an Angst und Schuldzuweisung denken, bedeutet das, dass vor allem Angst und Schuldzuweisung in uns wirkt. Wenn wir Gott voll von Liebe und Mitgefühl sehen, sind wir auch so.

Viele traditionelle religiöse Unterweisungen vermitteln das Bild des unerbittlich strengen und strafenden Gottes. Gott weiß, was gut und böse ist, und richtet darüber, inwieweit die Menschen diesen Richtlinien entsprechen. Dann wird auch der „gottesfürchtige“ Mensch als besonders tugendhaft angesehen. Er traut sich nichts zu tun, was den Vorstellungen Gottes, zumindest so, wie sie die jeweilige Kirche oder Religionsgemeinschaft sieht, zuwider läuft. Und er wird auch seinen Mitmenschen mit Angst und Schuldgefühlen begegnen. Dafür wird er dann irgendwann belohnt werden.

Hier begegnen wir dem Erziehungsmodell der hierarchischen Bewusstseinsstufe (vgl. dazu  „Vom Mut zu wachsen“). Das hierarchische Gottesbild dient der Einordnung des Menschen in die Regeln der Gesellschaft. Wer sich regelwidrig verhält, muss nicht nur mit den weltlichen Strafen rechnen, sondern auch mit den jenseitigen. So werden die Menschen in beständiger Angst gehalten und neigen auch dazu, ihre Mitmenschen mittels Schuld und Verängstigung zu dirigieren und zu kontrollieren.

Viele Menschen, die diese Zusammenhänge durchschaut haben, indem sie sich aus hierarchischen Abhängigkeiten befreit haben, haben sich auch von einem solchen Gott abgewendet. Aber nicht alle haben dann weitergesucht, um den Gott der Liebe und des Mitgefühls zu finden. Dazu gehört ein Mut zu wachsen: Nach innen, indem wir uns mit der Göttlichkeit in uns verbinden und sie mehr und mehr annehmen (samt all der Schatten und Unvollkommenheiten), nach außen, indem wir uns mit der Göttlichkeit der anderen Menschen und darüber hinaus der ganzen Schöpfung verbinden (samt deren Unzukömmlichkeiten und Unfertigkeiten).

Wenn es uns gelingt, das Göttliche in uns in der Liebe und im Mitgefühl ansprechen, wachsen wir über die Ängstlichkeit und Schuldhaftigkeit hinaus und sehen auch unsere Mitmenschen im klaren Licht der Liebe und des Mitgefühls.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.