29.05.2011

Regel 22: Der innere Friede ist überall

When a true lover of God goes into a tavern, the tavern becomes his chamber of prayer, but when a wine bibber goes into the same chamber, it becomes his tavern. In everything we do, it is our hearts that make the difference not our outer appearances. Sufis do not judge other people on how they look or who they are. When a Sufi stares at someone, he keeps both his eyes closed and instead opens a third eye – the eye that sees the inner realm.

Wenn ein wirklicher Liebhaber Gottes in eine Taverne geht, wird die Taverne seine Gebetskammer, aber wenn ein Weintrinker in die gleiche Kammer geht, wird sie seine Taverne. In allem, was wir tun, ist es unser Herz, das den Unterschied macht, nicht unser äußerliches Erscheinungsbild. Sufis beurteilen nicht andere Menschen danach, wie sie ausschauen oder wer sie sind. Wenn ein Sufi jemanden anstarrt, hält er beide Augen geschlossen und öffnet statt dessen ein drittes Auge – das Auge, das den Innenraum sieht.

Meditation im Alltag ist das eine Thema dieser Regel. Und das ist das Thema für jeden Meditierer, der nicht in einem geschlossenen Kloster, Ashram oder Retreatzentrum lebt, sondern sich im Alltag, mit Büro und Taverne bewegt. Wie kann ich in der Beziehung zur inneren Stille bleiben, wenn ich mich durch die „Welt“ bewege, die voll von Ablenkungen, Reizen und Einflüssen ist? Wie kann ich die Gelassenheit und den Gleichmut bewahren, wenn Menschen um mich herum hektisch sind?

Wie können wir also die Welt zur Kirche, zum Tempel oder zur Gebetskammer machen? Indem wir nicht am Äußerlichen der Welt hängenbleiben, an den glitzernden oder abstoßenden Erscheinungen, die unsere Sinne bannen und uns von uns weg zu sich hin ziehen wollen. Am mächtigsten wirken wohl die Angebote der Werbung, schließlich steckt ein riesiges Wissen und intensive Forschung dahinter, die Aufmerksamkeit mit aller Gewalt auf sich zu ziehen und nicht mehr loszulassen, sodass unsere Gehirnwindungen gar nicht anders können als sich in den Bann ziehen zu lassen. Am schwächsten wirken die Reize der Natur, sie sind sanft und spiegeln unser Inneres wieder.

Es heißt also Widerstand leisten gegenüber den Reizüberflutungen, die auf uns hereinbranden, wenn wir uns durch das Dickicht des normalen (Wahnsinns-)Alltags bewegen. Wir können das bewerkstelligen, indem wir immer wieder die Beziehung zu uns selbst aufnehmen, am einfachsten über die Beobachtung des Atems. Dann merken wir: Wir sind es, die sich da treiben lassen von den Zielen, die wir uns setzen und von den Irritationen, die sich in den Weg stellen. Wir sind noch etwas mehr, hinter diesen Zielen, Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen, die uns beschäftigen.

So können wir eine Distanz schaffen zu den Vorgängen um uns herum und in uns drinnen, die uns gewahr werden lässt, was es noch mehr gibt als all das, etwas Größeres und Bedeutsameres. Denn im inneren Gebetsraum der Stille zeigt sich, was wahr ist und worum es in Wahrheit geht, dann fällt das ab, was uns Sorgen, Ängste und Nöte bereitet.

Wenn wir aus diesem Raum heraus, den wir beständig in uns tragen (aber vielleicht nur recht selten aufsuchen), anderen Menschen begegnen, brauchen wir nicht auf ihr Äußeres starren, brauchen wir auch nicht die oberen Schalen ihres Inneren beurteilen und analysieren, wo ihre Fehler, Schwächen und Schattenseiten gespeichert sind, sondern können wir Kontakt aufnehmen mit dem Gebetsraum unseres Gegenübers. Das ist eine herausfordernde und lohnende Übung, die so viel zum Frieden in dieser Welt beitragen könnte. Innerer Friede, der den Frieden in den Mitmenschen erkennt, stärkt diesen Frieden in ihnen.

* * *
Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

27.05.2011

Regel 21 - Die Verschiedenartigkeit der Menschen als Ausdruck göttlicher Kreativität

We were all created in God’s image and yet we were each created different and unique. No two people are alike. No two hearts beat to the same rhythm. If God had wanted everyone to be the same, He would have made it so. Therefore disrespecting differences and imposing your thoughts on others is tantamount to disrespecting God’s holy scheme.

Wir wurden alle nach dem Bild Gottes erschaffen, und doch wurden wir alle unterschiedlich und einzigartig erschaffen. Keine zwei Menschen sind gleich. Keine zwei Herzen schlagen im gleichen Rhythmus. Wenn Gott gewollt hätte, dass alle gleich sind, hätte er es so gemacht. Also ist es die Geringschätzung der Unterschiede und das Aufdrängen deiner Gedanken anderen gegenüber gleichbedeutend mit der Geringschätzung von Gottes heiligem Entwurf.


Das Zitat weist darauf hin, wie unendlich vielfältig Gott sein muss, wie unerschöpflich seine/ihre Kreativität. Unsere Individualität ist ein Ausfluss dieser Schöpfungskraft und bildet einen Beitrag zur Mannigfaltigkeit und Schönheit dieser Welt. Das sollten wir uns bewusst machen, wenn wir an uns zweifeln oder wenn wir den Zweifel, den andere an uns haben, übernehmen. Das heißt nicht, dass wir vollkommen und makellos sind. Wir sind einmalige sich entwickelnde Wesen, die lernen und integrieren, und wieder lernen und integrieren, solange Leben in uns ist.
Sicher tun wir uns schwer (und das ist ein wichtiger Bereich des Lernens), alle Aspekte dieser Schöpfung wertzuschätzen, vieles tritt uns entgegen, das offensichtlich unserem Geschmack, unserer Empfindlichkeit und unserem Lebensplan entgegensteht. Wir reiben uns da und reiben uns dort, unsere eigenen Kanten werden dadurch schärfer. Unsere Individualität gewinnt an Kontur, der Unterschied zu den anderen wird deutlicher.

Die Kehrseite dieser Medaille ist das Anpassen und Angleichen an andere. In den vielfältigen sozialen Interaktionen, in denen wir uns bewegen, stellen wir uns häufig auf unsere Gegenüber ein. Unser Unterbewusstsein gibt uns vor, wie wir uns verhalten sollen, damit uns die anderen wohlgesonnen sind. Wir nehmen unsere eigenen Impulse zurück, damit wir eben nicht anecken, sondern sympathisch erscheinen. Dabei machen wir Abstriche von unserer Individualität zugunsten der Übereinstimmung, so dass oft die Partner einer langjährigen Ehe einander sehr ähnlich werden, oder Hundebesitzer die Verhaltensweise ihrer Haustiere übernehmen.

Wobei wiederum die Art und Weise, in der wir uns anpassen, Ausdruck unserer Individualität ist. Jede Person passt sich anders und bei anderen Gelegenheiten und Situation an.

Deshalb sollten wir unsere Individualität nicht als feststehende Größe sehen, sondern als Konstrukt, das sich dauernd verändert. Wir machen Annahmen darüber, wer oder wie wir sind, die schon im nächsten Moment nicht mehr stimmen können. Die Art und Weise, wie und wann wir solche Annahmen treffen, ist schon wieder Ausdruck unserer Besonderheit.

Weil wir solche Probleme haben, das Geheimnis unserer Individualität als Geschenk anzunehmen und als unergründliches Rätsel wertzuschätzen, neigen wir dazu, anderen unsere Eigenart aufzudrängen, indem wir z.B. annehmen, andere müssten so denken oder handeln wie wir selbst. Oder indem wir andere kritisieren für die Art und Weise, wie sie denken oder handeln. Oder indem wir anderen vorschreiben wollen, wie sie denken oder handeln sollten. Und so weiter....

Wir gehen auf der Straße, es ist eng, jemand geht vor uns, aber zu langsam für unser Tempo. Sofort kommt die innere Stimme, die diese andere Person schlecht macht, weil sie nicht so geht, wie es für uns am besten passt. Wenn wir statt dessen den Gedanken zulassen, dass die andere Person vielleicht gerade mehr Muße hat als wir uns selbst gerade gönnen, anerkennen wir die Individualität dieser Person und machen uns selbst lernwillig, bereit, von anderen etwas aufzunehmen und sehen darin ein Stück von unserer eigenen Besonderheit.

Oder wir sind in einer ähnlichen Situation, nur müssen wir uns gerade nicht beeilen, jedoch jemand hinter uns will uns überholen und wir lehnen diese Person gleich als Drängler ab. Wir können statt dessen ein anderes Konzept suchen, dass diese Person uns erlaubt, unsere Flexibilität und unsere Fähigkeit zum Ausweichen herausfordert. Schon anerkennen wir die andere Person und uns selbst in unserer Individualität und Lernfähigkeit.

So öffnen wir unser Blickfeld für die komplexe Welt der Menschen in ihren verschiedenartigen Beziehungsnetzen und Lebenswegen als Bereicherung statt als Behinderung und Einschränkung. Wenn uns das gelingt, können wir eine innere Erleichterung spüren, ein Weiten für ein größeres Ganzes, über unser begrenztes Denken hinaus, das ja nur ein winziger Teil der Besonderheit ist, die wir sind.

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

24.05.2011

Regel 20: Mach den ersten Schritt, alles weitere wird folgen

Fret not where the road will take you. Instead concentrate on the first step. That’s the hardest part and that’s what you are responsible for. Once you take that step let everything do what it naturally does and the rest will follow. Do not go with the flow. Be the flow.

Mach dir keine Sorgen damit, wohin dich die Straße führen wird. Konzentriere dich statt dessen auf den ersten Schritt. Das ist der schwerste Teil, und das ist das, wofür du verantwortlich bist. Wenn du einmal den Schritt nimmst, lass alles geschehen, was natürlicherweise geschieht, und der Rest wird folgen. Geh nicht mit dem Fluss. Sei der Fluss.

Wir hängen uns manchmal an Erwartungen, möglichst weit in die Zukunft hinein, bis uns schwindlig wird. Wir denken: Wenn wir wissen, wie es in zwei, fünf oder zehn Jahren sein wird, können wir jetzt die richtige Entscheidung treffen. Doch je weiter wir in die Zukunft schauen, desto unsicherer wird das Terrain. Wenn du den Rauch anschaust, der aus einem Räucherstäbchen strömt, merkst du, dass die erste Strecke, ein paar Zentimeter, gerade nach oben geht, und dann kräuselt sich der Rauch in immer neuen Mustern. Das ist ein Beispiel aus der Chaostheorie, die beweisen konnte, dass es über die erste Strecke hinaus keine Möglichkeit gibt, zu berechnen, was dann folgt, ein Kräuseln in die eine oder die andere Richtung, größer oder kleiner usw.

Ähnlich geht es uns mit unserer Zukunft. Entfernt sie sich von uns, wird sie unschärfer und ungewisser und verläuft sich in der Unvorhersehbarkeit. Aber bei vielen ist der Drang ungebrochen, zu wissen, was dann sein wird. Also suchen viele Leute Wahrsager und Hellsichtige auf, die weissagen sollen, was sein wird. Zugleich sollten wir wissen, dass diese Prophezeiungen manchmal zutreffen und manchmal nicht. Und wir können von vornherein nicht wissen, welche dieser Aussagen die zutreffenden sind und welche in die Fehlerquote fallen.

Deshalb müssen wir uns auf das Mysterium Zukunft einlassen, und je weniger unsere Erwartungen konkret in unserem Kopf ausformuliert sind, desto leichter können wir annehmen, was die Zukunft mit uns vorhat. Die lineare Zeit als Dominante der Zeitwahrnehmung ist eine Errungenschaft der jüngeren Zeit. Bei Völkern und Stämmen, die in engem Kontakt mit der Natur leben, herrscht ein zyklisches Denken vor, das frei von Wertungshierarchien ist. Der Frühling ist bloß anders und nicht besser als der Sommer, und die Abfolge dieser Jahreszeiten ist eine der Verlässlichkeiten.

Durch die Kleinräumigkeit des Lebenskreises war auch die Anzahl möglicher Veränderungen reduziert und eingeschränkt. Während wir z.B. unter Tausenden von Urlaubsmöglichkeiten in allen Graden der Entfernung wählen können und über jede der Möglichkeiten innere Bilder und Erwartungen aufbauen, ist der räumliche Radius für Menschen in dieser Kulturstufe durch die Kraft ihrer Füße definiert und durch die Entfernung, die sie in einem oder höchstens mehreren Tagen hin- und auch wieder zurückgehen können.

Je weiter wir uns aus dieser Lebens- und Bewusstseinsform herausentwickelt haben, desto größer wird unser Möglichkeitsraum, desto mehr könnte in der Zukunft passieren, und desto mehr könnte passieren, was unsere Erwartungen und Planungen durchkreuzt. So sehen wir uns gezwungen, uns noch mehr mit der Kontrolle der Zukunft zu beschäftigen, indem wir alle dort lauernden Risiken zeitgerecht auszuschalten oder zu umgehen trachten. Und zugleich gelingt es uns weniger als je zuvor, diese Zukunft zu kontrollieren, wegen ihrer zunehmenden Komplexität.

Wenn wir den Schritt von den Ängsten in die Weisheit wagen, heißt das, dass wir uns der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen anvertrauen. Die Wirklichkeit lässt sich nicht kontrollieren und verhält sich unseren Erwartungen gegenüber verständnislos und gleichgültig. Deshalb ist es ratsam, auf Kontrolle und Erwartungen so weit zu verzichten, so weit uns das möglich ist. Dort wo es nicht möglich ist, hält uns eine innere Angst in ihrem Bann. Wenn wir das anerkennen, können wir diesen Bann schwächen und mehr von dem Vertrauen in das Fließen des Lebens zulassen.

Denn das Leben fließt, gleich ob wir ihm vertrauen oder nicht. Es nimmt uns mit und trägt uns, ob wir vermeinen, die Steuerruder in den Händen zu haben, oder ob wir merken, dass die steuernden Bewegungen unserer Hände selber ein Fließen sind. Wenn uns das bewusst wird, sind wir der Fluss.

Das erste Hineinsteigen in den Fluss resultiert aus einer inneren Entscheidung, die im Tiefsten zwar nicht von unserem bewusst empfundenen Wollen, sondern aus uns unbekannten Quellen gesteuert wird. Doch können wir an dieser „Illusion“ der bewusst gesetzten Absicht festhalten, um nicht auf die Verantwortung zu vergessen, die mit Entscheidungen verbunden ist.

Manchmal bereuen wir Entscheidungen und wollen sie am liebsten wieder rückgängig machen, wenn wir sehen, was dadurch ausgelöst wird und schiefläuft. Wir fühlen uns mit der Verantwortung für diese Entscheidung überfordert und wollen den Konsequenzen ausweichen. Doch was geschehen ist, ist geschehen, die Geschichte lässt sich nicht zurückspulen. Das Hadern über die nicht mehr existente Vergangenheit sollten wir in ein Lernen übersetzen über das, was wir anders machen können, jetzt und in Zukunft. Wenn wir dem Fluss vertrauen, wissen wir, dass wir die Kraft haben, alle Herausforderungen, die sich auf der Reise stellen, zu meistern, wie jeder Fluss den Weg zum Meer meistert, gleich welche Widerstände sich dazwischen legen.

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

22.05.2011

Regel 19: Liebst du dich selbst, kannst du nur geliebt werden.

If you want to change the way others treat you, you should first change the way you treat yourself. Unless you learn to fully love yourself, fully and sincerely, there is no way you can be loved. Once you achieve that stage, however be thankful for every thorn that others might throw at you. It is a sign that you will soon be showered in roses.

Wenn du die Art verändern willst, wie andere mit dir umgehen, solltest du zuerst die Art verändern, wie du selbst mit dir umgehst. Wenn du nicht lernst, dich selbst voll zu lieben, voll und ehrlich, dann gibt es keinen Weg dazu, dass du geliebt werden kannst. Wenn du jene Stufe einmal erreicht hast, sei aber dankbar für jeden Dorn, den andere auf dich werfen mögen. Er ist ein Zeichen dafür, dass du bald mit Rosen überschüttet wirst.

In dem Maß, in dem wir lernen, uns selbst zu lieben, baut sich unsere Abhängigkeit davon ab, was wir von anderen kriegen. Wir werden weniger bedürftig und anspruchsvoll, was unsere Umgebung betrifft. Statt dessen sind wir offener dafür, bedingungslos zu geben und für andere da zu sein. Deshalb ist es eine vornehme Aufgabe, die Liebe zu sich selbst zu stärken.

Wie soll das nun gehen? Es gibt doch so vieles, was nicht in Ordnung ist mit uns selbst, wie sollen wir uns da lieben? Schon wieder haben wir etwas vergessen – sollen wir uns dafür lieben? Schon wieder ist unser Temperament mit uns durchgegangen und wir haben jemanden verletzt. Schon wieder haben wir Zeit unnütz verplempert. Schon wieder haben wir vergessen, die Herdplatte abzudrehen und das Essen samt Kochgeschirr ist verkohlt. Usw., usf. Eine endlose Liste von Fehlern, Schwächen, Versagen häuft sich Tag für Tag an und zeigt uns, wie unvollkommen wir sind. Und erst die Listen der Tageslisten, all die Tage und Jahre zurück...

Wie also sollen wir uns angesichts dieser erdrückenden Beweislage, die gegen uns spricht, selbst lieben? Gerade die Missgeschicke und Verfehlungen, die uns unterlaufen, sind besondere Gelegenheit, uns anzunehmen statt uns fertig zu machen. Wenn wir zurückdenken, wie wir noch ein Kind waren – und wo wir so viel falsch gemacht haben: Natürlich sind wir dafür gescholten worden, damit wir es besser lernen. Aber hätten wir uns nicht gewunschen, dass wir trotzdem geliebt werden? Erst langsam haben wir gelernt, dass es Situationen gibt, in denen wir keine Liebe kriegen, und dass wir selbst daran schuld sind durch unser Fehlverhalten. Erst langsam haben wir gelernt, dass Liebe von Bedingungen abhängt. Und lange haben wir das nicht glauben können, weil wir auf die Welt gekommen sind mit einer unbedingten Liebe für diese Eltern, die uns zur Welt gebracht haben.

Und natürlich hatten wir auch keine Schuldgefühle, wenn wir das Essen, das uns nicht geschmeckt hat, ausgespuckt haben oder wenn wir das Tischtuch samt Porzellangedeck und voller Suppenschüssel vom Tisch gezogen haben. An den Reaktionen der Erwachsenen haben wir gelernt, dass wir, wenn wir nicht in ihrem Sinn und nach ihren Vorstellen handeln, ihre Liebe verlieren. Sie kommt dann vielleicht wieder, aber sie wird unsicher. Wir beginnen das neue Lernen: Nicht das Lernen, wie es geht, das Essen mit Essbesteck in den Mund zu bugsieren, oder wie man einen Wecker in seine Bestandteile zerlegen kann, sondern das Lernen: Was muss ich tun und was muss ich vermeiden, damit die Liebe bleibt. Was sind die Bedingungen, unter denen ich geliebt werde, und was sind die Bedingungen, unter denen ich die Liebe verliere? Damit beginnt das Lernen der Anpassung an die Erwartungen und Bedürfnisse der anderen, das Lernen, das durch Bewertungen und Beurteilungen durch andere gesteuert wird. Damit beginnt das Lernen der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ideen.

Denn Liebe ist Leben, und Lieblosigkeit bedroht das Leben. Wir sichern unser Leben durch Anpassung. Diese Fähigkeit zur Anpassung nehmen wir alle aus unserer Kindheit mit. Wie wir sie erlernt haben, haben wir gleichzeitig unsere Fähigkeit, uns selbst zu lieben, verlernt. An die Stelle der Selbstliebe sind die Selbstkritiken und Selbstabwertungen getreten. Wir haben einen unbarmherzigen und unerbittlichen inneren Kritiker in uns aufgerichtet, der uns gleich eine über die Finger gibt, wenn wir den geringsten Fehler machen. Wir fangen gleich an, uns selbst zu beschmipfen, wenn etwas schief gelaufen ist, bevor uns die anderen abwerten können. Jedesmal, wenn das passiert, krümmt sich etwas ein in uns selbst, macht uns kleiner und reduziert unser Atemvolumen.

So treten wir der Welt und den anderen Menschen gegenüber, mehr oder weniger verkrümmt und verkleinert. Dann sollen die uns lieben, aus ihrer eigenen Verkrümmung und Verkleinerung heraus? Ein äußerst unwahrscheinliches Vorhaben, wie Blinde, die sich die Farben erklären wollen. Wieder bestätigen wir uns, wir sind nicht liebenswert, weil wir so fehlerhaft sind. Das Weltbild ist fertig und abgesiegelt: Die Liebe, die wir bräuchten, gibt es nicht, und wir müssen uns mit dem bisschen an Liebe, das wir da oder dort kriegen, zufrieden geben. Und zumindest ein wenig Erleichterung verschafft es uns, wenn wir immer wieder jammern oder andere für unser Unglück verantwortlich machen.

Aus diesem Korsett können wir nur entkommen, wenn wir den Spieß umdrehen und bei uns selber anfangen. Wir müssen unsere Verwundungen aus der Kindheit heilen, schließlich können wir ja auch körperlich nur gesund werden, wenn wir alle Entzündungsherde in uns geheilt haben. Heilen heißt, dass wir die Lieblosigkeiten von damals durch Liebe im Jetzt ersetzen müssen. Dann wächst unsere Selbstliebe und wir finden zurück zu unserer kindlichen Unschuld.

Das heißt nicht, dass wir unseren eigenen Fehlern gegenüber blind werden. Selbstliebe ist nicht gleich Selbstüberschätzung oder Selbstgefälligkeit. So wie die richtige Liebe der Eltern die Kinder nicht eitel und selbstsüchtig werden lässt, sondern liebevoll zu anderen und verständnisvoll zu sich selbst, so heilt die richtige Selbstliebe auch die Blindheit vor den eigenen Fehlern. Gute Eltern zeigen den Kindern ihre Fehler und Schwächen auf, in einer liebevollen Weise. Auf diese Weise können wir lernen, mit uns selbst verständig und liebevoll umzugehen. Wir nehmen dann unsere Fehler ernst, werten uns deshalb aber selbst nicht ab, sondern erkennen Fehler als Chancen zum Lernen.

Manchmal beklagt sich jemand, dass er oder sie schon so viel gelernt hat auf dem Weg der Selbstliebe und trotzdem so wenig Liebe von anderen bekommt. Ist das nicht ungerecht und widerspricht das nicht all den Lehren, die besagen, dass man alles zurück bekommt, was man an Liebe sich und anderen gibt?
Darin zeigt sich, dass die Selbstliebe noch nicht voll entwickelt ist, sondern an einem Teil des Egos festhängt und in sich kreist, statt sich nach außen zu entfalten. Die voll ausgereifte „reine“ Selbstliebe würde sagen: Nimm alles im Leben, so wie es kommt, und spüre hinter allem die Kraft der Liebe. Auch wenn dir Schlimmes  begegnet, akzeptiere es mit Gelassenheit, eines Tages wirst du erkennen, dass tief dahinter etwas liegt, was dich im Leben weiterbringt! So kann jede Erfahrung deine Liebesfähigkeit erweitern.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

21.05.2011

Regel 18: Wer sich selbst kennt, kennt Gott

The whole universe is contained within a single human being – You. Everything that you see around, including the things you might not be fond of and even the people you despise or abhor, is present within you in varying degrees. Therefore do not look for Satan outside of yourself either. The devil is not an extraordinary force that attacks from without. It is an ordinary voice within. If you get to know yourself fully, facing with honesty and hardness both your dark and light sides, you will arrive at a supreme form of consciousness. When a person knows himself or herself, he or she knows God.

Das ganze Universum ist in einem einzelnen Menschenwesen enthalten – in dir. Alles, was du um dich herum siehst, die Dinge mit eingeschlossen, die du nicht magst und sogar die Leute, die du verachtest oder verabscheust, ist in dir gegenwärtig in unterschiedlichem Ausmaß. Suche also auch den Teufel nicht außerhalb von dir. Der Teufel ist keine außergewöhnliche Macht, die dich von außen angreift. Es ist eine gewöhnliche Stimme in dir. Wenn du dich selbst voll kennen lernst, wenn du mit Ehrlichkeit und Konsequenz zugleich deinen dunklen und hellen Seiten stellst, wirst du auf einer erhabenen Ebene des Bewusstseins ankommen. Wenn jemand sich selbst kennt, kennt er/sie Gott.

Das holographische Geheimnis, das die Mystiker aller Zeiten verkündet haben, kann uns Angst machen. Alles soll in mir sein, dieses riesige Universum, diese Unmenge an Informationen, diese breite Palette an Gefühlen, Motiven, Ideen und Einstellungen? Wie soll ich damit je zurechtkommen, wie soll ich mich in diesem Universum jemals selbst finden? So vieles möchte ich los werden und vergessen, so viel lastet mir schon auf der Seele und im Verstand, ich will endlich Ruhe und mich nur um meine Sachen kümmern.

Die Mystikerin ist nicht an Theorien über die Welt und die Menschen interessiert. Sie möchte lebenspraktisch wirken: Wie können die Menschen von ihrem Leiden befreit werden und wie kann daraus ein besseres Zusammenleben der Menschen entstehen?

Für uns aufgeklärte oder nachaufklärerische Menschen fällt der Einstieg in eine mystische Thematik, deren Stimmigkeit wir vielleicht intuitiv teilen, leichter, wenn wir sie als Arbeitshypothesen verstehen: Wir wenden die These versuchsweise an, so, als würde sie stimmen und halten uns im Hinterkopf die Möglichkeit offen, sie zu revidieren, wenn sie nicht funktioniert. Was würde das für unsere sozialen Interaktionen und für unsere soziale Wahrnehmung bedeuten, sollte das ganze soziale Universum in uns enthalten sein?

Wenn also alle Phänomene und Spielarten zwischenmenschlichen Verhaltens in uns gefunden werden können, wenn uns also (nach Cicero) „nichts Menschliches fremd“ ist, bedeutet es, dass uns andere Menschen einen Spiegel vorhalten in ihrem uns störenden Verhalten. Was uns an anderen aufregt, zeigt uns, worüber wir uns aufregen, zeigt uns also, womit wir in der Welt nicht zurecht kommen, zeigt uns folglich, wo unsere eigenen Unzulänglichkeiten liegen. Wenn uns der Geiz von jemand anderem ärgert, heißt das, dass wir Geiz kennen, und wir kennen nur etwas, was in uns selber vorhanden ist. Dass uns etwas, was es in uns gibt, ärgert, bedeutet, dass wir mit einem Teil von uns selbst nicht produktiv oder kreativ umgehen können, sondern nur abwehrend und verdammend. Ohne es zu merken, richten wir die Abwehr und die Verdammung gegen uns selber und engen wir uns ein.
Wieder liegt unsere Chance zum Wachsen darin, dass wir Bewusstheit schaffen:  wir nutzen die Arbeitshypothese, dass uns andere einen Spiegel vorhalten, sobald wir uns über sie ärgern oder ihr Verhalten ablehnen. Damit können wir den Blick umlenken von außen nach innen und finden im Inneren unentdeckte verborgene Aspekte unseres Selbst. Dabei kommt uns der Teufel zu Hilfe. 

Der Teufel wurde lange genug verteufelt: Als eine Macht, die sich irgendwo im Verborgenen aufhält und aus dem Hinterhalt Verderben ins Leben der Menschen bringt. Alles Böse muss auf einen Bösewicht zurückgehen. Damit haben wir immer eine Ausrede und einen Sündenbock: Den bocksbeinigen gehörnten Satan. Allmächtig wie er ist, darf es uns nicht wundern, dass wir immer wieder schwach werden.

Der Mystiker kümmert sich nicht um theologische Fragen über den Ursprung oder die Quelle des Bösen. Er zeigt auf die Menschen und ihre Neigungen, Böses zu tun und darauf zu vergessen, Gutes zu tun. Da braucht es gar keinen Teufel als Urheber. Sobald das geschieht, ist der eigentliche Teufel am Werk, unsere Unvollkommenheit, die alltägliche Stimme der Selbstverstricktheit, nicht mehr und nicht weniger. 

Das bedeutet aber auch, dass die eigentliche Macht in uns selber liegt. Können wir uns folgoich in jedem Moment entscheiden, dem Teufel oder der Liebe zu folgen? Wenn wir näher in uns hineinleuchten, werden wir vielleicht erkennen, dass wir eigentlich nie bewusst und überlegt die Entscheidung für den Teufel treffen, sondern dass etwas in uns, was scheinbar nicht in unserer Gewalt ist, unsere Handlungen lenkt, und nachher wachen wir auf und sagen uns, da hätten wir uns anders verhalten sollen. Wir bekommen z.B. einen Wutanfall, weil uns jemand ungerecht behandelt und werden dabei noch ungerechter als wir selbst behandelt wurden. Später erkennen wir, dass wir dem anderen mehr angetan haben als uns angetan wurde, aber auch, dass das nicht unsere Absicht war, sondern dass wir in der Situation nicht mehr bewusst entscheiden konnten.

Das in uns, das wir nicht kontrollieren können, das in einem dunklen Moment Besitz von uns ergreift und gerade deshalb Böses anrichten kann, ist eben nicht eine äußere Instanz, sondern etwas, das sich in uns festgesetzt hat als angstgesteuertes Reaktionsmuster, das auf Knopfdruck von außen aktiviert werden kann und uns vom liebevollsten im nächsten Moment zum abscheulichsten Wesen verwandeln kann. 

Wir sind also wieder herausgefordert, in uns selbst zu schauen, die Tiefe unseres Herzens, unsere Mördergrube zu erkunden.  Dazu braucht es die Kraft der Ehrlichkeit und der Konsequenz und des Mutes. Schließlich konfrontieren wir dabei niemand geringeren als den Teufel, und mit dem lässt sich meist schlecht spaßen. Doch lebt dieser innere Teufel nur dadurch, dass er sich gut verstecken kann. Sobald wir ihm ins Angesicht widerstehen, schwindet er und seine dunkle Macht dahin. Mit jedem Sieg, den wir in dieser Auseinandersetzung erringen, gewinnen wir an Bewusstsein dazu und erweitern wir das freie Land in uns, in dem Milch und Honig fließen.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 17: Innerer Schmutz und Reinigung

Real Filth is the one inside. The rest simply washes off. There is only one type of dirt that cannot be cleansed with pure waters, and that is the stain of hatred and bigotry contaminating the soul. You can purify your body through abstinence and fasting, but only love will purify your heart.

Wirklicher Schmutz ist der innere. Den Rest waschen wir einfach ab. Es gibt nur eine Art von Dreck, der mit reinem Wasser nicht abgewaschen werden kann, das ist der Makel von Hass und Frömmelei, der die Seele verschmutzt. Du kannst den Körper durch Abstinenz und Fasten reinigen, aber nur Liebe wird dein Herz reinigen.

Wir leben in einer Kultur, die stark von Sauberkeit geprägt ist, und das hat auch seine guten Seiten. Was wir an weniger entwickelten Ländern oft schlecht aushalten, ist die Unordnung, der Mist, der herumliegt, der Gestank und der Dreck.  Manchmal übersehen wir dabei, dass die Menschen dort etwas ausstrahlen, was bei uns selten ist, eine Form der Entspanntheit und des alltäglichen Humors. Das zeigt uns, dass der äußere Schmutz nur eine Seite ist, und nicht die wesentlichste. Hinter dem saubersten Äußeren kann sich leicht ein ungereinigter Charakter verstecken.
 
Außen so wie innen, heißt es manchmal. Außen sauber machen, ist keine Kunst, höchstens eine Überwindung. Zur äußeren Reinigung zählt auch die des eigenen Körpers, z.B. durch Praktiken des Fastens. Dabei hilft die Disziplin, das Ego einzudämmen. In jeder Form einer konsequenten Übungspraxis müssen Widerstände überwunden werden. Dadurch wird das Ego geschwächt. Seine Bedürftigkeit ist nicht die einzige Richtschnur des Handelns.

Die Reinigung des Herzens wird dadurch erleichtert, aber ist damit noch nicht getan. Bloße Selbstdisziplin und Überwindung bringt nicht automatisch mehr Bewusstheit. Es kann auch das Gegenteil eintreten, dass die Selbstdisziplin und Selbstkasteiung einem Teil in uns zu dienen beginnt, der sich mit dem Erfolg der Selbstkontrolle als etwas Besseres und Überlegenes fühlt, also zu Stolz und Überheblichkeit beiträgt, womit sich das Ego schützen kann. Ein anderer verdeckter Aspekt der Selbstkontrolle kann im Ablehnen des Schmutzigen und Unangenehmen liegen, der zu einem zwanghaften Aufrichten von Sauberkeit in allen Belangen führt. Alles Unsaubere wird verabscheut, und damit wird eine Dimension der Wirklichkeit abgelehnt und verurteilt, die zu ihr gehört wie der Schatten zum Licht. Der Blick auf die Natur lehrt uns, wie relativ unsere Begriffe von Sauberkeit sind. Schweine leben ganz gut mit anderen Sauberkeitsbegriffen als Katzen.

Die innere Reinigung ist deshalb schwierig, weil wir meistens gar nicht erkennen, was gereinigt gehört. Wir sind so fixiert auf unsere Eigenarten und Marotten, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, dass sie geändert gehören. Wir pflegen unser gewohntes Selbstbild und rechtfertigen unsere Handlungen mit großer Geschicklichkeit vor uns selber, auch wenn sie weder uns noch den anderen dienen. Ebenso pflegen wir die Bilder von den anderen Menschen, vor allem von jenen, die uns enttäuscht, getäuscht oder verletzt haben. So kreisen wir im wesentlichen in uns selbst und halten das für die einzig mögliche Wirklichkeit.

Das Zitat macht uns aufmerksam auf zwei Formen der inneren Kontamination: Hass und Bigotterie. Sie stehen wohl stellvertretend für alle Lieblosigkeiten, die wir anderen antun (Hass), und für alle Selbstüberheblichkeiten, die uns blind gegenüber uns selber sein lassen (Frömmelei). In beiden Fällen weigern wir uns hinzuschauen: Auf den anderen, wie er wirklich ist; statt dessen starren wir auf unsere Projektionen, und auf uns selbst, wie wir wirklich sind; statt dessen suhlen wir uns in unserer Rechthaberei und Selbstverherrlichung.

Im Fall des Hasses sind wir gefangen in einer beengten Sicht des anderen, die uns selber eng werden lässt – können wir frei atmen, wenn wir hassen? Scheinbar stärkt uns der Hass, weil er eine todbringende Kraft in sich hat. Hass will in letzter Konsequenz den anderen vernichten. Doch ist das eine Kraft, die sich gegen uns selber richtet. In Wirklichkeit löschen wir die Liebe in uns aus und schneiden uns damit von der Energie ab, die uns nährt und wachsen lässt.

Wenn wir in Selbstgefälligkeit baden, strecken wir uns scheinbar über uns selbst hinaus und können dann erst recht nicht frei atmen, wir halten gewissermaßen die Luft in uns fest, damit wir über den Dingen und über den anderen Menschen schweben können. Die Kraft, die wir dabei spüren, ist geborgt von unseren Reserven und reicht nur für begrenzte Zeit. In der Selbstgefälligkeit neigen wir dazu, schnell wieder zu kollabieren, wenn die Wechselfälle des Lebens unangenehme Herausforderungen bereitstellen. Der Frömmler flüchtet auch gerne vor den realen Kontakten mit Menschen, die ihm seine Schwächen aufzeigen könnten.

Wir verhalten uns wie die Menschen in dem Roman „Der futurologische Kongress“ von Stanislaw Lem. Dort ist alles verrottet und verkommen, doch die Regierung hat überall eine Duftdroge verstreut, die bewirkt, dass sich bei allen die Wahrnehmung so verzerrt, dass sie die verkommenen Dinge als wunderschön sehen. In Bezug auf uns selber neigen wir dazu, die gestörten Anteile schönzufärben, und in Bezug auf andere machen wir das Gegenteil, wir überzeichnen deren gestörte Anteile und ignorieren ihren wahren Kern. Die Droge, der wir dauernd unterliegen, ist unsere krankhafte Selbstbezogenheit und Selbsttäuschung, genauso wie wir uns dauernd über die anderen täuschen, sei es im Hass oder in der Idealisierung.

Das Herz zu reinigen, erfordert die Konsequenz in der Innenschau: Unsere Schwächen anzuerkennen und ins Herz zu nehmen, wo sie sich in Stärken verwandeln, wenn wir die Kraft der Liebe nutzen. Die Innenschau kommt an kein Ende, weil jede neue Herausforderung des Lebens unsere Schattenaspekte aktiviert. Sie kann jedoch durch Übung verbessert und erleichtert werden. Der Genuss eines gelungenen Heilungsschrittes ist die darin erfahrbare Vertiefung der Kraft des Herzens.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

17.05.2011

Regel 13: Wahre und falsche Lehrer

There are more fake gurus and false teachers in this world than the numbers of stars in the visible universe. Don’t confuse power-driven self centred people with true mentors. A genuine spiritual master will not direct your attention to himself or herself and will not expect absolute obedience or utter admiration from you, but instead will help you to appreciate and admire your inner self. True mentors are as transparent as glass. They let the Light of God pass through them.
Es gibt mehr falsche Gurus und Lehrer in dieser Welt als die Zahl der Sterne, die im Universum sichtbar sind. Verwechsle nicht machtgetriebene selbstbezogene Leute mit wahren Mentoren. Ein wirklicher spiritueller Meister wird deine Aufmerksamkeit nicht auf sich ausrichten und wird von dir keinen absoluten Gehorsam oder äußerste Bewunderung erwarten. Statt dessen wird er oder sie dir helfen, dein inneres Selbst zu schätzen und zu bewundern. Echte Mentoren sind durchsichtig wie Glas. Sie lassen das Licht Gottes durch sie hindurchscheinen.

Wer auf der Suche fündig geworden ist, möchte diesen Fund teilen. Das ist Teil unserer menschlichen Natur. Selbst der Goldgräber, der seinen Nugget nach Jahren des Suchens ausgeschwemmt hat, muss seine Freude teilen, auch wenn er den Neid und die Gier seiner Kumpane fürchten sollte. Wir wollen Menschen daran teilhaben lassen, was uns selbst wertvoll ist. Sie sollen auch davon profitieren. Wir wollen lehren, was wir gelernt haben. Für jedes wertvolle Wissen gibt es Wissbegierige, die dieses Wissen für sich nutzen wollen.
Und dann kommen wir an eine Weggabelung, die wir allzu leicht übersehen. Lassen wir unseren Mitmenschen, die Vertrauen zu uns aufgebaut haben, die Freiheit, aus unseren Beschenkungen das auszuwählen, was ihnen wertvoll ist oder setzen wir sie unter Druck, noch mehr davon zu nehmen, als ihnen selber lieb ist? Mischt sich in unser Teilen unser Ego ein, das es besser wissen will, was für die andere gut ist? Sollen die anderen an genau meinem Wesen genesen, auf meine Art auf ihrem Weg weiterkommen?
Vielleicht sind wir, ohne es zu merken, schon abgezweigt, auf der Straße der verblendeten Lehrer. Wir haben Schüler, die von unseren Lippen lesen und unsere Einsichten zitieren, ehrfürchtige Fragen stellen und unsere Anweisungen befolgen, stets Dankbarkeit zeigen und uns weiterempfehlen. Diese Erfolge blenden uns mit ihrem verführerischen Licht. Es ist nicht unser Licht, das wir da vermeintlich über unsere Schüler ausbreiten. Es ist ihr Licht, das aus dem ehrlichen Wunsch nach Wahrheit, Erkenntnis und Liebe strahlt, das wir uns zu Eigen machen und ihnen wieder zurückgeben. Wir sind dann schon am Weg der pädagogischen und spirituellen Ausbeutung.
Der nächste Schritt der Verblendung zeigt sich, wie wir mit Kritik und Beschwerden umgehen: „Wenn du mit etwas nicht zurecht kommst, zeigt das, dass du an dir selber etwas nicht akzeptieren kannst. Schau dir das an, dann wird deine Kritik verstummen.“ „Du hast dir das so ausgesucht, das war deine eigene unbewusste Wahl, sei froh, dass dir jetzt die Einsicht darüber gezeigt wird.“ Wir spiegeln also jedes Feedback zurück zum Schüler und sind damit immer selber aus dem Schneider. Der Schüler mag daraus für sich lernen, was sein innerer Anteil an der Kritik war, er wird aber auch lernen, dass sein Lehrer in diesem Punkt nicht transparent, sondern überschattet ist.
Jede Lehrerin hat Schatten, als Teil ihrer Menschlichkeit. Es ist nicht notwendig, dass die Lehrerin ihre Schatten vor den Schülerinnen ausbreitet, denn damit stellt sie sich selber in den Mittelpunkt und die Schülerinnen an den Rand; es ist aber auch schädlich, wenn sie sich als vollkommen präsentiert, denn damit nimmt sie sich erst recht selber für wichtiger als die Schülerinnen. Solange sie selber um ihre Schatten weiß und sich um deren Aufhellung kümmert, ist sie eine gute Lehrerin. Solange sie die Schatten aus ihrer Arbeit mit den Schülern heraushalten kann, solange sie also nicht das Licht trüben, das sie durch sich hindurch strahlen lässt, ist sie auf dem richtigen Weg. Die Lehrerin sollte sich immer wieder vergewissern, dass sie selber immer Schülerin bleiben wird, Schülerin der größeren Weisheit, der sie alles schuldet, was sie lehren kann. Und dass sich diese größere Weisheit immer auch durch die Schülerinnen offenbart, gerade dort, wo sie mit unangenehmen Fragen oder Kommentaren kommen. Die Lehrerin sollte sich immer bewusst sein, dass Lehren Gnade und Verantwortung ist. Gute Lehrerinnen kann man auch daran erkennen, ob sie humorvoll mit anderen und vor allem auch mit sich selbst umgehen können.
Wie Lebensabschnittspartnerschaften gibt es auch Lebensabschnittlehrer, also Lehrer, die für eine Phase des Lebens wichtig sind. Der richtige Lehrer kann jedoch zum Falschen werden, wenn die Etappe des Weges vorbei ist, auf der der Lehrer den Schüler begleiten kann und wenn die Beziehung auch dort weitergeht, wo der Lehrer überfordert ist und nicht mehr wirklich begleiten kann. Es läge am Lehrer zu erkennen, wann er den Schüler entlassen und weiterschicken sollte. Doch die Verblendung hält ihn ab davon. So kann es mühsam werden für den Schüler, den Weg selber zu finden, manchmal auch schmerzhaft und konfliktbeladen, vor allem, wenn aus einer freien eine abhängige Lehrer-Schüler-Beziehung geworden ist.
Der Anspruch an einen Lehrer, ganz transparent zu sein, ist hoch, und er kann immer nur an Menschen ergehen. Wenn wir nach dem vollkommen transparenten Lehrer suchen, kann es sein, dass wir nie fündig werden. Deshalb ist es besser, nachzuspüren, was uns der Lehrer, zu dem es uns hinzieht, geben kann, und wo die Grenzen sind. Wir brauchen nicht den perfekten Lehrer, sondern den, der uns dort weiterhelfen kann, wo wir Hilfe brauchen, bis wir selbständig geworden sind. Der gute Lehrer macht sich selbst überflüssig, damit der Schüler selber Lehrer werden kann.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 16: Gottesliebe und Menschenliebe

It’s easy to love a perfect God, unblemished and infallible that He is. What is far more difficult is to love fellow human beings with all their imperfections and defects. Remember one can only know what one is capable of loving. There is no wisdom without love. Unless we learn to love God’s creation, we can neither truly love nor truly know God.

Leicht ist es, einen vollkommenen Gott zu lieben, makellos und unfehlbar, wie er ist. Was um vieles schwieriger ist, unsere Mitmenschen mit all ihren Unvollkommenheiten und Defekten zu lieben. Erinnere dich daran, dass man nur das kennen kann, was man lieben kann. Es gibt keine Weisheit ohne Liebe. Wenn wir nicht lernen, Gottes Schöpfung zu lieben, können wir Gott weder wirklich lieben noch wirklich kennen.

Was macht es uns so schwierig, unsere Mitmenschen zu lieben? Es ist unsere eigene Unvollkommenheit, Gestörtheit, Selbstverstricktheit. Immer wieder neigen wir dazu, unsere Sicht der Welt als die einzig mögliche und sinnvolle zu nehmen, womit uns jede andere Idee von der Welt irritiert und aufregt. Gleich fühlen wir uns bedroht und reagieren abweisend und ärgerlich. Dann ziehen wir uns auf uns selber zurück und sperren die Kanäle der Liebesenergie.
Wir halten uns viel an der Oberfläche auf und bleiben leicht dort hängen. Viele unserer Alltagsverrichtungen laufen auf Oberflächen: Einkaufen, am Verkehr teilnehmen, Bekannte treffen, Arbeitskollegen begrüßen, usw. An der Oberfläche ist jeder Mensch anders und schnell erkennen wir an den anderen etwas Störendes oder Gestörtes. Zudem sind wir häufig unter Zeitdruck, angespannt und gestresst. Damit ist unser empathisches Potenzial weitgehend außer Kraft gesetzt und der andere wird schnell zum Feind, der mir nur im Weg steht und mein Weiterkommen behindert.
Wie ist es mit den Freunden und Liebespartnern? Da kommen wir leichter in die Tiefe, da lauern aber auch viele Fallen, die uns dann wieder zurück an die Oberfläche schicken. Wir sind oft empfindlicher und leichter zu reizen und zu verletzen als bei Fremden. Wir denken, dass da mehr am Spiel steht und können deshalb nichts durchgehen lassen. Wir verstehen uns bestens darauf, die Knöpfe des anderen, also seine ganz besonders empfindlichen Punkte zu drücken, und sind besonders arg davon betroffen, wenn uns das gleiche passiert.
Wenn wir uns als Suchende verstehen, als Pilger auf dem Weg, dann sollten wir keine Gelegenheit säumen, die sich uns bietet, wenn wir merken, dass wir jemand anderen ablehnen. Dann können wir uns die Frage stellen, was es mit uns selbst zu tun hat, welchen Teil von uns selber wir im anderen ablehnen. Sobald wir diesen Teil in uns besser annehmen, wird er uns im Außen nicht mehr stören und wir können uns tiefer den anderen gegenüber öffnen. Was wir an uns kennen und an uns lieben gelernt haben, wird uns helfen, mehr am anderen kennen und lieben zu lernen.
Die Übung ist, dass wir Menschen, die uns tagtäglich über den Weg laufen, in der Tiefe begegnen: das ist damit gemeint, die Schöpfung Gottes zu lieben und darin Gott zu lieben. Das bedeutet nicht, dass wir allen um den Hals fallen müssen, sondern dass wir ihnen mit Respekt und Wertschätzung begegnen, ob durch Worte, Gesten, Blicke oder einfach nur durch die innere Einstellung. Dann erkennen wir, dass andere in Wirklichkeit gar nicht unvollkommen sind, sondern dass es nur unser Blick ist, der getrübt ist von unseren Voreinstellungen und Projektionen und das Offensichtliche nicht erkennen kann. Wenn wir uns davon befreien können, gewinnen wir viel: Lauter wunderbare Freunde rings um uns.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung wird das Buch 2012 im Droemer Verlag erscheinen.

15.05.2011

Regel 15: Das Leben als Kunstwerk

God is busy with the completion of your work, both outwardly and inwardly. He is fully occupied with you. Every human being is a work in progress that is slowly and inexorably moving towards perfection. We are each an unfinished work of art, both waiting and striving to be completed. God deals with each of us separately because humanity is a fine art of skilled penmanship where every single dot is equally important for the entire picture.

Gott ist ganz mit der Vollendung deiner Arbeit beschäftigt, sowohl innerlich wie äußerlich. Er ist ganz mit dir beschäftigt. Jedes Menschenwesen ist ein Projekt im Werden, das sich langsam und unweigerlich der Vollendung annähert. Wir alle sind ein unfertiges Kunstwerk, das zugleich auf die Fertigstellung wartet und danach strebt. Gott nimmt sich um jeden einzelnen von uns an, weil die Menschheit eine feine Kunst von gediegener handwerklicher Meisterschaft ist,  bei der jeder einzelne Punkt gleichermaßen wichtig ist für das gesamte Bild.

Gott arbeitet an der Evolution des Bewusstseins. Oder er selber ist die treibende Kraft im Zentrum der Evolution, wie auch immer die Theologen diese Frage zu entscheiden vermögen oder belieben. Wir können uns also entspannen: Es liegt nicht allein daran, dass wir uns dauernd anstrengen und bemühen, sondern in diesem Arbeiten arbeitet die höhere Kraft in uns. Noch dazu: wir, die Elemente in diesem Schöpfungsprozess, brauchen uns nicht nur auf die treibenden Kräfte in uns verlassen, sondern auch in unseren Weggefährten und in der Menschheit als ganzer. 

Wieso sollte Gott auch wollen, dass nur wir weiterkommen und nicht gleichermaßen alle anderen auch? Es fällt uns nur nicht auf, weil wir denken, die anderen müssten sich so ähnlich verhalten wie wir selber, damit wir annehmen können, dass sie am Weg zur Vollendung sind.

Wenn wir jemanden mit verzücktem Blick und verschränkten Beinen auf der Parkbank sitzen sehen, nehmen wir vermutlich leichter an, dass er gerade von höheren Kräften bearbeitet wird, als bei der alten Dame, die gerade auf ihren Hund schimpft. Aber wieso sollte bei ihr nicht ebenfalls die Eingebung von oben am Werk sein und wundersame Wirkung zeigen, die sich nur unserem voreingenommen Blick nicht offenbart?

Das Ziel der Evolution des Bewusstseins liegt nicht darin, dass einzelne Menschen mit ihren besonderen Leistungen oder Begabungen hervorragen. Es ist vielmehr erst erreicht, wenn jeder Mensch sich voll und ganz entfaltet hat, d.h. wenn jeder Mensch seine inneren Ängste abgebaut und seine innere Freiheit gewonnen hat und für sich und die Welt nutzt.

Gott hat ein gigantisches Projekt begonnen mit dem Auftreten der Menschen im Naturzusammenhang. Die Natur trägt die Vollendung in sich und vollzieht sie in all ihren Abläufen. Sie geht gewissermaßen von einem Moment der Vollendung zum nächsten. Sie braucht nicht anders zu werden als sie ist. Es ist gleichermaßen Teil dieser Vollendung, wenn neue Pflanzenarten entstehen und alte aussterben, wenn die einen Tiere die anderen jagen und erlegen, wenn Erdbeben Landschaften umkrempeln und Vulkanausbrüche die Vegetation im Umkreis zerstören. 

Doch das Projekt Mensch ist von anderem Zuschnitt und Kaliber. Es handelt von einem Wesen, das mit einem Überschuss an Reflexion und Kreativität ausgestattet ist und deshalb keine vorgegebene Vollendung in sich tragen kann. Jeder Mensch wird erst zum Kunstwerk, indem er sich dazu macht, bzw. indem er sich dazu werden lässt, und das geschieht in Zwiesprache und Abstimmung zwischen oben und unten, zwischen dem Meister und seinem Kunstwerk.

Das Kunstwerk gewinnt erst in seinem Werden die Form, die seiner Vollendung entspricht. Was immer der Künstler am Beginn eines Werkes geplant haben mag, kann nicht das sein, was dann am Ende herauskommt. So wie das Kunstwerk in seinem Werden in Dialog mit dem Künstler tritt, Fragen stellt und Ansprüche formuliert, bis in einer gemeinsamen Anstrengung seine Vollendung erreicht ist, so  stellt sich der Schöpfungsprozess des Menschen und der Menschheit dar – im Dialog mit dem Künstler, der durch die Rückmeldung erst erfährt, wie die Vollendung ausschauen kann und was dazu noch fehlt. 

Es findet also ein dauernder und „ergebnisoffener“ Austausch zwischen Mensch und Gott sowie zwischen Menschheit und Gott statt, und in diesem Kommunikationszusammenhang wird zunehmend klarer, worauf alles hinausläuft.  Die abstrakte Idee davon ist schon vorhanden (ein angstfreier welt- und liebesoffener Mensch), aber die Form findet sich in jedem individuellen Schöpfungsablauf erst durch die jeweilige Ausgestaltung. Und da hat auch das „Werk“ etwas mitzureden und mitzugestalten. 

Unser Streben nach Weiterentwicklung und die Unterstützung, die uns die göttliche Kraft dazu gibt, spielen untrennbar zusammen. Deshalb brauchen wir uns unseres Teiles daran nicht zu brüsten, sondern können uns auch hier wieder in Dankbarkeit üben.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 14: Widerstand loslassen


Try not to resist the changes that come your way. Instead let life live through you. And do not worry that your life is turning upside down. How do you know that the side you are used to is better  than the one to come?

Versuch den Änderungen, die dir entgegenkommen, keinen Widerstand entgegen zu setzen. Vielmehr lass zu, dass sich das Leben durch dich lebt. Und mach dir keine Sorgen, dass sich in deinem Leben als umdreht. Wie weißt du, dass die Seite, an die du gewohnt bist, besser ist als die, die kommen wird?

Leben ist Veränderung, und das bleibt so bis zum Tod, dann endet eine bestimmte Veränderungsmöglichkeit, während die Überbleibseln weiteren Veränderungsprozessen unterworfen sind. Jeder Stillstand bedeutet, dass wir die Veränderung, die sich gerade vollzieht, übersehen.

Manche Veränderungen in unserem Leben mögen wir, andere gefallen uns nicht. Wir haben den natürlichen Impuls, das, was uns nicht in den Kram passt, abzuwehren und zu bekämpfen, und mehr von dem zu wollen, was uns gefällt. Doch die Veränderung ist schon da, sie ist passiert, ohne uns zu fragen, ob uns das Recht ist. Das Wetter ist in dem Moment schlecht geworden, als ich einen Spaziergang machen wollte. Ich ärgere mich und mache das Wetter dafür verantwortlich, dass ich jetzt sauer bin statt mich am Spaziergang erfreuen zu können. Ich drücke die falsche Taste am Computer, und die Arbeit von einer Stunde ist futsch. Schuld ist das blöde Ding, das so unsinnig reagiert.

Sofort, wenn etwas geschieht, was unsere Erwartungen durchbricht, reagieren wir mit Stress, mit innerer Anspannung. Wir müssen uns neu organisieren und orientieren, manchmal noch dazu unter Zeitdruck. Das ist ein Aufwand, den unser System leisten muss. Dazu kommen noch die Gefühle, vorher z.B. hatten wir freudige Erwartung oder eine kreative Arbeitsphase. Diese wandeln sich blitzschnell und machen unangenehmen Gefühlen Platz: Enttäuschung, Ärger, Frustration. Sie bewirken, dass der Stress verlängert und verstärkt wird und dass wir uns nicht entspannen können. Dazu müssten wir wieder zu den angenehmen Gefühlen zurückkehren. Da sich die Umstände so zum Schlechteren geändert haben, geht das eben nicht.

Die Umstände bewirken folglich, wie wir uns fühlen – das Wetter, der unbrauchbare PC usw. Sobald die unangenehme Störung unserer Erwartungen eintrifft, fühlen wir uns als das Opfer von höheren und unkontrollierbaren Mächten. Wenn wir diese Kausalität nicht umdrehen können, bleibt uns nichts anderes übrig, als immer wieder gegen das Leben und seine Umstände zu opponieren.

Unsere Neigung, dem Leben gegenüber Widerstand zu leisten, bewirkt eine sinnlose Vergeudung von Energie. Denn der Widerstand kommt immer im Nachhinein, wenn alles schon passiert ist. Die Wirklichkeit ist immer schon einen schritt weiter als der Widerstand. Widerstand ist also zwecklos. „Wenn du gegen Gott kämpfst, verlierst du immer“, lautet ein weiser Spruch.

Er verschwindet allerdings nicht dadurch, dass wir gegen den Widerstand einen Widerstand aufbauen, indem wir ihn bekämpfen: Schon wieder habe ich mich so unnütz aufgeregt, wann höre ich endlich auf damit? Erst recht: Widerstand gegen Widerstand ist zwecklos.

Es ist klar, dass wir mit dieser Strategie nie aus dem Widerstand herausfinden. Im Gegenteil, wir füttern ihn und machen ihn noch wichtiger. Vielleicht erleichtert uns das Abführen von Aggression, wenn wir zu schimpfen und fluchen anfangen. Aber der Widerstand wird beim nächsten Mal genauso stark wieder auftreten.

Was ist der Ausweg? Nun, hier kommt ein bewährtes Rezept: Was den Widerstand wirklich und dauerhaft abschwächt, ist, ihn zu akzeptieren. Aus gewöhnlich gut informierten Quellen verlautet, dass das Annehmen des Widerstandes immer wieder zu ihrem Schmelzen führt. Hast du etwas gegen die Veränderung, die gerade passiert ist, so akzeptiere, dass du gerade die Welt nicht akzeptieren kannst so wie sie gerade ist.

Also: Wenn ein Widerstand auftaucht (und das passiert ja andauernd), ist es ein Experiment wert, die Haltung des interessierten und höflichen Willkommenheißens einzunehmen: Der (unangemeldete) Gast schaut nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe, aber wenn ich ihm freundlich begegne, verwandelt er sich über kurz oder lang in eine sympathische Person. So werden aus den widrigen Umständen wichtige Ressourcen.

Und wenn wir lernen, als erstes den Widerstand gegen das Leben zu akzeptieren, wird es immer leichter, das Leben selber und seine Umstände anzunehmen, wie sie eben sind. Damit finden wir immer mehr in die Haltung der Gelassenheit. Sie nimmt das Leben mit Gleichmut, der sich nicht aus der Fassung bringen lässt, was auch immer die Umstände sind und behält die Heiterkeit auch dort noch bei, wo sich der Spaß aufzuhören scheint. Wenn sich das Bewusstsein mehr auf den Moment konzentriert, hängt es nicht mehr so stark in den Erwartungen fest. Erwartungen fesseln unser Inneres und blockieren die Kreativität und Flexibilität. Mittels Erwartungen wollen wir absolutistisch über die Zukunft regieren. Wir malen uns aus, wie etwas zu sein hat, und reagieren ungehalten, wenn das Leben etwas anderes für uns bereithält und uns dieses Neue nicht gefällt.

Warum sprechen wir von einem Gewohnheitstier? Weil Gewohnheiten nichts genuin Menschliches sind. Gewohnheiten haben Tiere und Pflanzen auch.Das Besondere am Menschsein beginnt dort, wo die Gewohnheiten enden und die Kreativität beginnt, also die neuen Ideen und Energien.

Erwartungen sind auch nur Ausdehnungen von Gewohnheiten: Jede Erwartung knüpft an etwas an, was schon bekannt ist, schon einmal geschehen ist, ist also eine Verlängerung einer Gewohnheit. Ich kenne den Geschmack des Weines XY und erwarte mir den gleichen Genuss wie beim vorigen mal. In dieser Erwartung bestelle ich das Glas Wein und habe dann zwei Möglichkeiten: die Erwartung wird erfüllt oder enttäuscht. Der Genuss des Weines ist überlagert von der Erwartungsgeschichte.

Wir pflegen auch unsere negativen Erwartungen, unsere Befürchtungen und Ängste vor der Zukunft. Manchmal nutzt unser Verstand solche Projektionen in die Zukunft, um sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, in der Meinung, dass das Schlimme dadurch weniger schlimm wird.

Für den Verstand ist es also das Schlimmste, mit einer Situation konfrontiert zu sein, auf die er nicht vorbereitet ist, für die er keine Strategie zur Verfügung hat, dann muss er nämlich die Kontrolle abgeben, und das Behalten der Kontrolle ist seine wichtigste Aufgabe und Existenzberechtigung. Deshalb sagt er auch gerne bei Überraschungen, dass er das ohnehin erwartet hat. 

Wundern ist das Gegenteil von Erwarten. Es geht über den Verstand hinaus. Wenn die Erwartungen schwinden, gehen wir nicht mehr laut Plan durchs Leben – jetzt nehme ich das Frühstück ein, dann gehe ich zum Zug, dann steige ich ein und suche einen Platz, dann komme ich an usw. Ohne Erwartungen läuft das Leben zwar, wie es läuft, genauso wie oben beschrieben, aber es ist anders und von Staunen geprägt: Wie das Frühstück köstlich schmeckt, was sich am Wegrand beim Gehen zeigt oder wie gerade der Himmel ausschaut, solche neuen und einmaligen Eindrücke bestimmen den Lebenslauf, und nicht die geplanten Vorgänge. Es ist dies also kein chaotisches Leben, die Abläufe haben ihre Folgerichtigkeit und gehorchen den Regeln der Realität, aber die Ebene der Gewohnheiten ist nicht wichtig und tritt hinter das Erleben des Wunderbaren und Einmaligen zurück.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

11.05.2011

Regel 12: Die Suche nach der Liebe

The quest for Love changes us. There is no seeker amongst those who search for Love who has not matured along the way. The moment you start looking for Love, you start to change within and without.

Die Suche nach der Liebe verändert uns. Es gibt keinen Suchenden unter denen, die nach Liebe suchen, der nicht unterwegs gereift ist. Sobald du dich nach der Liebe umschaust, beginnst du dich innen und außen zu verändern.

Jede Suche verändert. Das Ziel bestimmt die Richtung und beeinflusst den Suchenden, auch wenn er das Ziel noch nicht erreicht hat. Je klarer das Ziel vor dem inneren Auge steht, desto mehr von seiner Energie strömt in jede Phase der Suche in den Suchenden ein.

Die Liebe als Ziel der Suche ist kein bescheidenes oder geringes, aber das eigentlich menschliche Ziel. Denn die gesamte Evolution des Bewusstseins, soweit wir sie verstehen können, wächst auf dieses Ziel hin, und auch die Lebenswege der Menschen können nach diesem Drehbuch gelesen werden.

Natürlich streben Menschen in ihrem Leben die unterschiedlichsten Ziele an, und viele davon haben scheinbar überhaupt nichts mit Liebe zu tun. In unserer Gesellschaft z.B. sind viele Suchbewegung auf materialistische Ziele ausgerichtet. Wohlstand und Lebensqualität sollen durch die Vermehrung der verfügbaren Güter verbessert werden.

Doch die eigentliche Hoffnung der Menschen liegt nicht darin, möglichst viele Gegenstände um sich herum anzuhäufen oder eindrucksvoll hohe Zahlen auf der Gewinnseite der Kontoauszüge vorzufinden, sondern mit Hilfe dieser Gegenstände oder Zahlen ein glücklicheres Leben führen zu können. Mit so und so viel Geld kann ich mir diese oder jene Reise leisten, und reisen möchte ich, weil ich mich dann glücklicher fühle. Mit dieser neuen Badewanne kann ich mich noch besser entspannen und wohlfühlen. Dieses neue Auto gibt mir ein noch besseres Lebensgefühl usw.

Die Hoffnung liegt auch nicht allein im Selbstgenuss, im Befriedigen der eigenen Bedürfnisse, sondern schließt immer auch andere Menschen mit ein. Das Vergnügen des neuen Autos will mit jemandem geteilt werden, die Eindrücke der Reise wollen mit einer anderen Person ausgetauscht werden usw. Mit einem anderen Menschen verbunden sein, verstanden werden und Vertrauen spüren, bringt Glückszustände, wie sie mit Hilfe von Gütern oder Substanzen nie erreicht werden können. Ohne Menschen, die uns das schenken können, ist Glück für die meisten Menschen schwer vorstellbar. Was banal klingt und was wir doch permanent vergessen: Liebe können wir uns nicht kaufen. Vergessen wir nie das Schicksal von König Midas.

Schließlich erweitert sich die Hoffnung noch einmal über das Zwischenmenschliche hinaus, wie es sich in der Liebe von Mensch zu Mensch zeigt. Wenn eine tiefe Liebe gelingt und erlebt werden kann, ist sie nicht auf ein oder mehrere Gegenüber beschränkt, sondern dehnt sich aus auf alle und auf alles. Deshalb begnügen sich die meisten mystischen Sucher nicht mit der Liebe zu den Menschen, die sie zwar immer als ganz wichtigen Teil ihrer Suche sehen, in der sie aber immer auch die Liebe zu Gott oder zur jenseitigen Ganzheit anstreben.

Selbst wenn wir keine Mystiker sind, erkennen wir die Zusammenhänge, verdrängen sie aber gerne. Unübersehbar und unausweichlich werden sie vor allem dann, wenn wir mit unseren von der Konsumwelt vorgeprägten Suchbewegungen scheitern: Wenn das aktuellste Handy und das Traumhaus, die hübscheste Freundin und das schönste Kleid uns nicht trösten können. Zwar bietet uns unsere Warenwelt eine schier unendliche Menge an Trostgütern an, doch irgendwann wird uns klar, dass wir sie nur als Mittel zum Zweck erwerben. Unsere Selbsttäuschung besteht darin, dass wir uns in der Welt der Mittel verlieren und auf den Zweck vergessen. Denn der Zweck, der erst die Mittel heiligt, ist nichts Gegenständliches, sondern etwas Innerliches, selber nicht messbares: Glück, Zufriedenheit, Wohlgefühl und Liebe.

Erst wenn wir uns mit bewusster Suche in diese Zusammenhänge hineinbewegen, passiert eine wirkliche Veränderung mit uns, und das Ziel, die Liebe, durchdringt uns immer mehr und mehr, manchmal sogar, wenn wir sie gar nicht suchen.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.


Regel 11: Die Unvermeidlichkeit von Schmerzen

The midwife knows that when there is no pain, the way for the baby cannot be opened and the mother cannot give birth. Likewise for a new self to be born, hardship is necessary. Just as day needs to go through intense heat to become strong, Love can only be perfected in pain.

Die Hebamme weiß, dass, wenn es keine Schmerzen gibt, der Weg für das Baby nicht aufgehen kann und dass die Mutter dann nicht gebären kann. Ebenso sind für die Geburt eines neuen Selbst Mühen notwendig. Genau wie ein Tag durch intensive Hitze durchgehen muss, um stark zu werden, kann Liebe nur im Schmerz zur Vollkommenheit finden.

Schauen wir auf die Natur. Sie ist nicht auf Perfektion und Leidvermeidung aufgebaut, sondern darauf, sich dauernd zu verändern und aus den Veränderungen zu lernen, um sich weiterzuentwickeln. Es gibt vermutlich keine Veränderung, die ganz ohne Schmerzen ablaufen kann. Der Same muss seine Schale durchbrechen, um zu einem Grashalm oder zu einer Eiche zu werden. Und wenn er auf steinigen und trockenen Grund fällt, wird er am Mangel leiden und irgendwann absterben. Dennoch geht das Leben weiter und entfaltet aus einer Fülle von Möglichkeiten immer wieder neue Formen. In der Balance zwischen Glück und Schmerz wächst das Leben.

Wenn wir die Weisheit unseres Organismus ernst nehmen, erkennen wir immer wieder , wie Schmerzen Teil des Lebensprozesses sind. Es gibt kein schmerzfreies Leben, weder bei uns Menschen noch bei allen anderen fühlenden Wesen. Die Schmerzempfindung ist wohl (neben oder verbunden mit der Angstempfindung) eine der frühesten Errungenschaften der Evolution bei der Höherentwicklung der Lebewesen. Wie die Lebensformen im Verlauf der Evolution komplexer werden, wird auch die Schmerzempfindung vielschichtiger. Wir können Gelenksschmerzen haben, oder Gemütsschmerzen, Phantomschmerzen und Beziehungsschmerzen. Je nach Sensibilität tut uns Vieles und Verschiedenes weh, woran wir immer wieder erkennen, dass das Leben nicht perfekt ist.

Wir finden Schmerzen unangenehm und wollen sie vermeiden. Natürlich, wer will schon leiden. Und unser Organismus ist auf dieses Vermeiden programmiert: Wenn es zu heiß wird, zucken wir zurück. Er will uns aber auch zeigen, dass es Probleme gibt: Schmerzen weisen auf etwas Gefährliches hin oder signalisieren, dass etwas nicht in Ordnung ist, oder dass sich etwas umstellt und neu ordnet. Wenn der Zahn weh tut, müssen wir zum Arzt.

Da kommt unser Verstand an und wünscht sich ein perfektes, sprich schmerzfreies Leben geben muss. Wir müssen nur alle Quellen von Schmerzen eliminieren: Fehler an unserem Körper (Operationen müssen her), Störungen im Nervensystem (Painkiller müssen her), nervende Mitmenschen (für die müssen Therapien her), übermäßige Steuern (bessere Politiker müssen her) usw.

Da aber trotz aller Bemühungen immer wieder neue Schmerzquellen auftreten, klagt der Verstand schließlich das größere Ganze an, das irgendeinen Fehler in der Regie des Menschseins eingebaut haben muss: Der Regisseur ist schuld an der Misere. Wieso soll ich dauernd an deinem Missmanagement leiden? Du hättest es ja in der Hand, es so einzurichten, dass mir nichts mehr weh tut, aufregt oder stört. Aber du tust es nicht.

Oben steht die Antwort auf diese so typisch menschliche Anklage. Willst du wachsen, musst du Schmerzen erdulden. Selbst wenn du bloß darauf verzichtest und als menschliches Gemüse oder Gänseblümchen leben willst, wirst du leiden.

Die gute Nachricht ist: Die Kraft der Liebe ist stärker als der Schmerz, so wie die Kraft des Lebens stärker ist als alle Hindernisse, die sich beim Durchgang durch den Geburtskanal in den Weg stellen. Wächst die Liebe, werden die Leiden geringer. Verfalle aber nicht der Illusion, Schmerzen zu vermeiden und den bequemsten Weg zu suchen – bei der Hintertür kommt das wieder herein, vor dem du die Vordertür gerade zugeschlagen hast.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.


05.05.2011

Regel 10: Jede Reise ist eine innere Reise

East, West, South or North makes little difference. No matter what your destination, just be sure to make every journey a journey within. If you travel within, you’ll travel the whole wide world and beyond.

Osten, Westen, Süden oder Norden unterscheiden sich nicht wirklich. Gleich was dein Ziel ist, vergewissere dich nur, jede Reise zu einer inneren Reise zu machen. Wenn du innerlich reist, bereist du die ganze weite Welt und auch die jenseitige.

Heute habe ich von einem Taxifahrer im Gaza-Streifen gelesen. Er lebt in diesem 360 Quadratkilometer großen Gebiet wie seine 1,5 Millionen Mitbewohner und hat zuletzt vor 30 Jahren eine Reise in ein Nachbarland unternommen. Die Chancen, dass er irgendwann diesen Flecken verlassen kann und eine Reise unternehmen kann, sind gleich Null. Vielleicht empfindest du auch das Mitgefühl – wenn wir in einem Land leben können, in dem alles offen ist, alles möglich, in alle Himmelsrichtungen auszuschweifen, mit einem Pass, der alle Grenzen und einer Kreditkarte, die alle Türen öffnet. Und auf der anderen Seite Milliarden von Menschen, die noch weniger Lebenschancen und Bewegungsfreiheiten haben als dieser Taxifahrer.

Es gehört zum Menschsein, die räumliche Veränderung zu lieben, das Erkunden der Himmelsrichtungen, das Reisen. Wir wollen zum Horizont und dort einen neuen Horizont finden, der wieder verlockt, erreicht und überwunden zu werden. Doch das Reisen stößt immer an eine Grenze, die Grenze des Raumes. Hinter jeder überwundenen Grenze stellt sich eine neue. In unserem Reisen möchten wir dieser Begrenztheit entrinnen, doch wir können sie im Äußeren nie überwinden, sie liegt in der Natur des Äußeren, in unserer Körperlichkeit. Nie kommen wir in den Süden, wenn wir nach Süden wollen, denn dort gibt es wieder ein noch südlicheres Süden, und selbst wenn wir an einem der Pole angelangt sind, an denen die Himmelsrichtungen in sich zusammenfallen, sind wir nicht angekommen, sondern wollen weiter.
Reisen weckt unsere Neugier und unseren Drang nach Expansion. Es steht im Dienst des emanzipatorischen Bewusstseins. Diese Bewusstseinsform will sich unterscheiden von dem, was schon war, es will sich verändern und jeder Festlegung entkommen. Es will die Selbstverständlichkeiten und Abgegriffenheiten des Alltags hinter sich lassen und Abenteuer finden, die herausfordern und inspirieren. Es ist die Energie, die den jungen Menschen aus der Behütung durch die Eltern in die weite Welt schickt, um von dort als veränderter und reiferer Mensch zurückzukommen.

Die äußere Reise verstrickt sich allerdings in das Dilemma dieser Bewusstseinsstufe: jeder Drang nach immer Neuem wird in sich langweilig und alltäglich. Darum suchen wir z.B. nach immer neuen Formen des Reisens und der Wegbewegung. Aber wir entkommen dem Dilemma nicht, noch nie haben wir wirklich das gefunden, was wir im Reisen gesucht hätten, denn auch jedes Neue ist am nächsten Tag schon alt, oder im nächsten Moment. So drängt uns unser emanzipatives Streben weiter und lässt uns nicht ruhen, irgendwo muss es ja das Gelobte Land, Shangrila, Avalon geben, dort, wo unsere Sehnsucht zur Ruhe kommt und das gefunden hat, dem die Suche gegolten hat.

Diese Stille finden wir nicht in den drei Dimensionen unseres Im-Raum-Seins oder in einer der Richtungen des Himmels, sondern in unserem Inneren. Wenn wir tiefer ins Innere einsteigen, finden wir dort Zugänge zur Weite und zur Unendlichkeit des Seins.

Und dann entdecken wir, dass das, was uns das Reisen interessant macht, das ist, was sich im Inneren verändert. Natürlich genießen wir die neuen Eindrücke des Äußeren, aber im Tiefsten ist es die Weitung des Inneren, die uns beglückt. Jede äußere Reise ist also eine innere. Jede Ortsveränderung bewirkt eine innere Positionsverschiebung.  

Und wenn sich die Innenwelt in ihren faszinierenden Seiten öffnet, kann auch der Drang nach äußerlichen Veränderungen zurückgehen. Dann muss nicht jeder Urlaub den ökologischen Fußabdruck ins Unermessliche und Uneinbringbare vermehren, sondern dann wird auch eine kleinere oder weniger spektakuläre Ortsveränderung ihre kostbaren inneren Wirkungen entfalten.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.