26.06.2011

Regel 35: Das polare Denken, die Gegensätze und Widersprüche

In this world, it is not similarities or regularities that take us a step forward, but blunt opposites. And all the opposites in the universe are present within each and every one of us. Therefore the believer needs to meet the unbeliever residing within. And the unbeliever should get to know the silent faithful in him. Until the day one reaches the stage of being the perfect human being, faith is a gradual process and one that necessitates its seeming opposite: disbelief.

In dieser Welt sind es nicht die Ähnlichkeiten oder Regelmäßigkeiten, die uns einen Schritt weiter bringen, sondern die schroffen Gegensätze. Und all die Gegensätze im Universum sind in jedem einzelnen von uns enthalten. Deshalb muss der Gläubige den Ungläubigen treffen, der in ihm wohnt. Und der Ungläubige sollte den stillen Glaubenden in sich finden. Bis zu dem Tag, an dem jemand die Seinsstufe des vollkommenen Menschenwesens erreicht, ist der Glaube ein schrittweiser Prozess und einer, der sein scheinbares Gegenteil benötigt: Unglaube.

Die Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten sind die Charakteristika der Natur. Keine Blume gleicht der anderen, doch sind sie alle ähnlich. Kein Frühling ist wie der andere, doch kommt er jedes Jahr mit Verlässlichkeit. Es gibt in der Natur auch kein Entweder/Oder, sondern Veränderungen von einem Zustand in den nächsten. Graduell verändert sich das Wetter von Sonnenschein auf Gewitter, stufenlos gleitet der Tag in die Nacht über.
Die Gegensätze sind Charakteristika des menschlichen Denkens. Möglicherweise beruht dieses Denken auf der in Lebewesen tief verankerten Dualität von Kampf und Flucht im Fall einer Todesbedrohung. Blitzschnell muss zwischen zwei Möglichkeiten entschieden und alle Kraft in das Gewählte investiert werden. Das heißt, dass das Denken in Gegensätzen der Angst verpflichtet ist und von ihr gesteuert wird. 

Durch unser Denken jedenfalls haben wir die Möglichkeit, zu allem und jedem ein Gegenteil zu finden. Es genügt das Wort „nicht“ oder die Vorsilbe „un-„, um etwas in sein Gegenteil zu verkehren. Mit Hilfe dieses Schlüssels können wir im Denken alles her- und wieder wegdenken.  Er hilft uns auch, unser Denken zu radikalisieren und damit radikalen Handlungen Vorschub zu leisten, nach dem Motto: „Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Oder: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Vom Terrorregime der Jakobiner während der Französischen Revolution bis zur Achse des Bösen nach einem amerikanischen Kriegspräsidenten steckt hinter vielen Grausamkeiten und menschenverursachten Zerstörungen dieser einfache Operator unseres Denkens.
Auch und gerade in den Belangen des Glaubens und der Religion wurde und wird dieser Operator mit großem Eifer angewendet. Menschen glauben, in Sachen des Glaubens besonders radikal vorgehen zu müssen, weil es ja um die Grundbedingungen unserer Existenz geht. Vom Glauben hängt ab, ob mein Leben einen Sinn hat oder nicht, ob es mit dem Tod endet, ob es ein Jenseits gibt usw. Wenn jemand einen anderen Glauben vertritt, stellt das meinen Glauben in Frage, und eine einfache, oft praktizierte Möglichkeit, mit solchen Verunsicherungen umzugehen, besteht darin, dem Andersgläubigen den Schädel einzuschlagen und damit das Problem aus der Welt zu schaffen. 

Interessanterweise sind die meisten Religionsstifter und Weisen, also die Experten des Glaubens, friedliebende und freundliche Menschen, und Gewalt wird entweder rundwegs abgelehnt oder nur in Ausnahmefällen gestattet, bildet aber keinesfalls den Kernpunkt einer religiösen Lehre. Doch haben die Anhänger dieser Lehren unermesslich viel Blut vergossen, offensichtlich unter Missachtung der eigenen Grundsätze, die mit solchen Untaten verteidigt werden sollten. 

Die Mystiker, also die Experten der Spiritualität (darunter verstehe ich die zentralen Erkenntnisse der Religionen ohne ihr historisches, moralisches und soziales Beiwerk), zeigen den Weg, wie wir aus der Neigung, unsere Glaubensrichtungen mit Feuer und Schwert zu verbreiten und abzusichern, herauskommen. Wiederum geht es um die Innenschau. Wenn wir in uns hineinschauen und unser Denken beobachten, werden wir merken, dass sich da so viel in unserem Kopf abspielt, dass wir mit Fug und Recht alles mögliche über uns behaupten könnten – dass wir Atheisten und Gottgläubige, Materialisten und Spiritisten, Esoteriker und Pragmatiker sind und noch vieles, vieles mehr, wenn nicht überhaupt alles. Der friedlichste Mensch sollte in sich den Gewalttäter finden, wenn er lange genug sucht, der sparsamste den geizigsten, der wohlwollendste den missgünstigsten usw. Und wir brauchen uns vor all den Widersprüchen in uns nicht zu entsetzen, sondern können neidlos anerkennen, dass sich in unserem Kopf ein ganzes Universum befindet, genau das Universum, das wir mit allen anderen Köpfen teilen. Im Leben spielen wir nur diejenigen Teile aus, an die wir uns und unsere Umgebung gewöhnt haben, also jene Rollen, die uns leicht fallen. Wenn wir mal aus der Rolle fallen, fallen wir gleich auf. „Was, du kannst lustig sein?“ „Was, du kannst ernst sein?“

Es liegt also in unserer Natur als denkende Wesen, die wir gesteuert sind von mächtigen Gefühlsmustern, dass wir immer wieder, und besonders dann, wenn wir uns bedroht und geängstigt fühlen, Gegensätze konstruieren und zur Erklärung der Welt verwenden. Konstruktiv können wir dieses Design dazu nutzen, um unser Potenzial zu erweitern und unsere Innenwelt aufzuhellen. Wenn wir einen Schattenaspekt unserer Persönlichkeit, also einen Wesenszug, der uns wenig vertraut ist und den wir gerne bei anderen Menschen ablehnen und kritisieren, in uns selber gefunden haben, fällt eine Gefahr weg, die wir in diese Möglichkeit hineinprojiziert haben, wir sind ein Stück freier. Dann können wir auch anders in der Welt agieren und können überall um dieses Stück mehr einschließen statt auszugrenzen. Bis wir, im Zustand der Vollkommenheit, die ganze Welt mitumfassen, mit all ihren Gegensätzen und Widersprüchen, mit all ihrer Chaotik und Ordnung.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 13: Wahre und falsche Lehrer

There are more fake gurus and false teachers in this world than the numbers of stars in the visible universe. Don’t confuse power-driven self centred people with true mentors. A genuine spiritual master will not direct your attention to himself or herself and will not expect absolute obedience or utter admiration from you, but instead will help you to appreciate and admire your inner self. True mentors are as transparent as glass. They let the Light of God pass through them.

Es gibt mehr falsche Gurus und Lehrer in dieser Welt als die Zahl der Sterne, die im Universum sichtbar sind. Verwechsle nicht machtgetriebene selbstbezogene Leute mit wahren Mentoren. Ein wirklicher spiritueller Meister wird deine Aufmerksamkeit nicht auf sich ausrichten und wird von dir keinen absoluten Gehorsam oder äußerste Bewunderung erwarten. Statt dessen wird er oder sie dir helfen, dein inneres Selbst zu schätzen und zu bewundern. Echte Mentoren sind durchsichtig wie Glas. Sie lassen das Licht Gottes durch sie hindurchscheinen.



Wer auf der Suche fündig geworden ist, möchte diesen Fund teilen. Das ist Teil unserer menschlichen Natur. Selbst der Goldgräber, der seinen Nugget nach Jahren des Suchens ausgeschwemmt hat, muss seine Freude teilen, auch wenn er den Neid und die Gier seiner Kumpane fürchten sollte. Wir wollen Menschen daran teilhaben lassen, was uns selbst wertvoll ist. Sie sollen auch davon profitieren. Wir wollen lehren, was wir gelernt haben. Für jedes wertvolle Wissen gibt es Wissbegierige, die dieses Wissen für sich nutzen wollen.

Und dann kommen wir an eine Weggabelung, die wir allzu leicht übersehen. Lassen wir unseren Mitmenschen, die Vertrauen zu uns aufgebaut haben, die Freiheit, aus unseren Beschenkungen das auszuwählen, was ihnen wertvoll ist oder setzen wir sie unter Druck, noch mehr davon zu nehmen, als ihnen selber lieb ist? Mischt sich in unser Teilen unser Ego ein, das es besser wissen will, was für die andere gut ist? Sollen die anderen an genau meinem Wesen genesen, auf meine Art auf ihrem Weg weiterkommen? 

Vielleicht sind wir, ohne es zu merken, schon abgezweigt, und befinden uns auf der Straße der verblendeten Lehrer. Wir haben Schüler, die von unseren Lippen lesen und unsere Einsichten zitieren, ehrfürchtige Fragen stellen und unsere Anweisungen befolgen, stets Dankbarkeit zeigen und uns weiterempfehlen. Diese Erfolge blenden uns mit ihrem verführerischen Licht. Es ist nicht unser Licht, das wir da vermeintlich über unsere Schüler ausbreiten. Es ist ihr Licht, das aus dem ehrlichen Wunsch nach Wahrheit, Erkenntnis und Liebe strahlt, das wir uns zu Eigen machen und ihnen wieder zurückgeben. Wir selbst sind dann schon am Weg zur pädagogischen und spirituellen Ausbeutung. 

Der nächste Schritt der Verblendung zeigt sich, wie wir mit Kritik und Beschwerden umgehen: „Wenn du mit etwas nicht zurecht kommst, was ich dir sage, zeigt das, dass du an dir selber etwas nicht akzeptieren kannst. Schau dir das an, dann wird deine Kritik verstummen.“ „Du hast dir das so ausgesucht, das war deine eigene unbewusste Wahl, sei froh, dass dir jetzt die Einsicht darüber gezeigt wird.“ Wir spiegeln also jedes Feedback zurück zum Schüler und sind damit immer selber aus dem Schneider. Der Schüler mag daraus für sich lernen, was sein innerer Anteil an der Kritik war, er sollte aber auch lernen, dass sein Lehrer in diesem Punkt nicht transparent, sondern überschattet ist.

Jede Lehrerin hat Schatten, als Teil ihrer Menschlichkeit. Es ist nicht notwendig, dass die Lehrerin ihre Schatten vor den Schülerinnen ausbreitet, denn damit stellt sie sich selber in den Mittelpunkt und die Schülerinnen an den Rand; es ist aber auch schädlich, wenn sie sich als vollkommen präsentiert, denn damit nimmt sie sich erst recht selber für wichtiger als die Schülerinnen. Solange sie selber um ihre Schatten weiß und sich um deren Aufhellung kümmert, ist sie eine gute Lehrerin. Solange sie die Schatten aus ihrer Arbeit mit den Schülern heraushalten kann, solange sie also nicht das Licht trüben, das sie durch sich hindurch strahlen lässt, ist sie auf dem richtigen Weg. Die Lehrerin sollte sich immer wieder vergewissern, dass sie selber immer Schülerin bleiben wird, Schülerin der größeren Weisheit, der sie alles schuldet, was sie lehren kann. Und dass sich diese größere Weisheit immer auch durch die Schülerinnen offenbart, gerade dort, wo sie mit unangenehmen Fragen oder Kommentaren kommen. Die Lehrerin sollte sich immer bewusst sein, dass Lehren Gnade und Verantwortung ist. Gute Lehrerinnen kann man auch daran erkennen, ob sie humorvoll mit anderen und vor allem auch mit sich selbst umgehen können.

Wie Lebensabschnittspartnerschaften gibt es auch Lebensabschnittlehrer, also Lehrer, die für eine Phase des Lebens wichtig sind. Der richtige Lehrer in einer Lebensperiode kann zum Falschen werden, wenn die Etappe des Weges vorbei ist, auf der der Lehrer den Schüler begleiten konnte. Problematisch ist es auch, wenn die Beziehung dort weitergeht, wo der Lehrer bereits überfordert ist und nicht mehr wirklich begleiten kann. Es läge am Lehrer zu erkennen, wann er den Schüler entlassen und weiterschicken sollte. Doch die Verblendung, ein vollkommener Lehrer zu sein, kann ihn ab davon abhalten. In diesem Fall wird es mühsam für den Schüler, den Weg selber zu finden, manchmal wird es auch schmerzhaft und konfliktbeladen, vor allem, wenn aus einer freien schon vorher eine abhängige Lehrer-Schüler-Beziehung geworden war.

Der Anspruch an einen Lehrer, ganz transparent zu sein, ist hoch, und es sind immer Menschen, an die er ergeht. Wenn wir nach dem vollkommen transparenten Lehrer suchen, kann es sein, dass wir nie fündig werden. Deshalb ist es besser, nachzuspüren, was uns der Lehrer, zu dem es uns hinzieht, geben kann, und wo die Grenzen sind. Wir brauchen nicht den perfekten Lehrer, sondern den, der uns dort weiterhelfen kann, wo wir Hilfe brauchen, bis wir selbständig geworden sind. Der gute Lehrer macht sich selbst überflüssig, damit der Schüler selber Lehrer werden kann.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 34: Unterordnung und Hingabe


Submission does not mean being weak or passive. It leads to neither fatalism nor capitulation. Just the opposite. True power resides in submission – a power that comes from within. Those who submit to the divine essence of life will live in unperturbed tranquility and peace even when the whole wide world goes through turbulence after turbulence.

Unterordnung heißt nicht, schwach oder passiv zu sein. Sie führt weder zu Fatalismus noch zur Kapitulation. Ganz im Gegenteil. Wirkliche Macht ruht in der Unterordnung – eine Macht, die von innen kommt. Diejenigen, die sich der göttlichen Essenz des Lebens unterordnen, werden in unbeirrter  Beschaulichkeit und ungestörtem Frieden leben, auch wenn die ganze weite Welt eine Turbulenz nach der anderen durchmacht.

Unterordnung klingt fast wie eine Beleidigung und Demütigung für den aufgeklärten Geist. Er opponiert sofort und sagt: Niemals werde ich mich irgendjemandem unterwerfen. Niemals werde ich eine Macht über mir anerkennen. Immanuel Kant hat der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen,“ an die Fahnen geheftet. Und weiter: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. ... Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.” 

Wer sich seines Verstandes bedient, braucht niemanden über sich, er ist frei. Er entwirft seine eigenen Grundsätze und Werte und folgt ihnen. Er tut nur, was ihnen entspricht und kämpft gegen alles, was ihnen entgegensteht. Dazu ist Mut erforderlich, denn eine Autorität, der man sich anvertraut, gibt auch Sicherheit und Schutz. Der moderne Mensch des personalistischen Bewusstseins ist auf sich gestellt und für sich selbst verantwortlich. In der Abenddämmerung, nachdem die Welt in Ordnung gebracht wurde, reitet er der untergehenden Sonne entgegen. (Oder setzt sich vor die Tastatur und schreibt seine Blogs).

Soweit das Idealbild des unabhängigen Menschen, der sich von den Fesseln mittelalterlicher Denkweisen und Sozialformen befreit hat. Die Realität schaut in vielen Bereichen anders aus, dauernd müssen wir uns mit anderen abstimmen, da und dort Abstriche machen und Kompromisse eingehen. In der Welt, die an Komplexität immer mehr zunimmt, werden die wechselseitigen Abhängigkeiten immer komplexer und schwerer durchschaubar.

Im Getriebe der unterschiedlichsten sozialen Netzwerke wird schließlich auch fraglich, was denn dieser eigenwillige Verstand, dessen wir uns bedienen sollen, eigentlich noch sein kann. Ist er mehr als ein Denkprozessor, der eingespeiste Informationen filtert und daraus andauernd sich verändernde Konstruktionen über sich selbst und über die Welt produziert? Gibt es einen archimedischen Punkt hinter all diesen Produktionen, der sie zusammenhält, also ein „Ich denke, also bin ich“? Ist dieses Ich, der Angelpunkt des modernen Menschen, nach all den Katastrophen und Umwälzungen, die zur Postmoderne führten, überhaupt noch eine relevante Größe oder doch nur ein mühsam zusammengezimmertes Konstrukt? Klammern wir uns verzweifelt an unserem Ich an wie die mittelalterlichen Menschen an die Segenskraft eines Splitters aus dem Kreuz Christi?

Unser Bewusstsein ist aus den unterschiedlichsten Schichten zusammengebaut. Keine kann die Priorität über den anderen behaupten. Doch schreiten wir fort in unserer Erforschung, wenn wir eine Zusammenschau wagen und anerkennen, dass uns manchmal die älteste Ebene der Menschheit umtreibt und ein anderes Mal die noch kaum fassbare Welt des universalistischen Bewusstseins. Manchmal bedienen wir uns unseres Verstandes mit mehr oder weniger Erfolg, manchmal bewegen wir uns ohne Ich in der Welt, manchmal funktionieren wir in Unterordnung unter Systeme, die wir nicht beeinflussen können oder wollen.  Wachsen in Bewusstheit heißt dann, wahrzunehmen, auf welcher Bewusstseinsebene wir uns gerade befinden. Dann wird uns auch deutlicher, welche Wahrnehmungs- und Handlungsalternativen uns zur Verfügung stehen, wenn wir das Gefühl haben, nicht zu wissen, wie es weiter gehen soll.

Die Meister der Weisheit machen uns mit der Welt des weitesten und freiesten Bewusstseins, das Menschen möglich ist, bekannt und zeigen uns auf, wie wir dorthin gelangen können. So müssen wir auf diesem Weg auch unser Konzept von Unterordnung revidieren.  Wir lassen die hierarchischen Prägungen von Über- und Unterordnung hinter uns und machen uns von ihren Implikationen frei. Wir weiten den Blick über die menschlichen Versuche hinaus, eine taugliche soziale Ordnung zu errichten, und gelangen zur Lebenskraft, die hinter, unter und in all diesen Versuchen wirksam ist. Sie ist mächtiger als unsere individuellen und kollektiven Bemühungen und sie übersteigt das Fassungsvermögen unseres Verstandes. 

Wir können erklären, so viel wir erklären können, und sollen auch alles, was noch nicht erklärt wurde, erklärbar machen. Dazu nutzen wir unseren Verstand. Und wir können seine Grenzen anerkennen. Es gibt Bereiche unseres Bewusstseins, die nicht erklärbar sind und keine Erklärung brauchen, weil sie, obwohl sie unmittelbar einleuchtend sind, nicht in Worte gefasst werden können. 

Dazu gehört der Bereich, in den wir eintreten, wenn wir uns mit dem inneren Frieden verbinden. Es gibt diesen Ort, den wir z.B. am Ende eines tief entspannten Ausatems, versunken in einem Musikstück oder in der Betrachtung der Natur finden können. Dort herrscht Friede und Gleichmut jenseits des Chaos unserer Lebenswelten. Dann sind wir selber mit unserem Wollen und Nichtwollen, unserer Bedürftigkeit und Ängstlichkeit, nicht mehr wichtig. Dann sind wir ganz dem Größeren hingegeben, das uns trägt und für uns sorgt. Dann geben wir dem die Ehre, das uns leben lässt, von Moment zu Moment.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 33: Die Leere

While everyone in this world strives to get somewhere and become someone, only to leave it all behind after death, you aim for the supreme stage of nothingness. Live this life as light and empty as the number zero. We are no different from a pot. It is not the decorations outside but the emptiness inside that holds us straight. Just like that, it is not what we aspire to achieve but the consciousness of nothingness that keeps us going.

Während jeder in dieser Welt danach strebt, irgendwohin zu gelangen und irgendwer zu werden, um nach dem Tod alles hinter sich zu lassen, setze dir die erhabene Stufe des Nichts als Ziel. Lebe dieses Leben so leicht und leer wie die Nummer Null. Wir sind nicht anders als ein Topf. Es sind nicht die Dekorationen außen, sondern die Leere innen, die uns gerade hält. Einfach so: Was uns am Leben hält, ist nicht, was wir zu vollbringen trachten, sondern das Bewusstsein des Nichts.

Das Nichts und die Leere sind rätselhafte Begriffe, mit denen wir uns im Alltagsleben schwer tun. Alles erscheint uns angefüllt mit Gegenständen, und selbst wenn wir nach oben schauen, ist dort auch etwas, der Himmel. Wie sollen wir auch ein Nichts sehen oder hören, was sollen wir mit einem Nichts anfangen?

Nur wenn wir zu „spekulieren“ beginnen, ändert sich etwas: Wenn wir die Erdatmosphäre verlassen und uns in den Weltraum hinaus bewegen, gibt es nur Leere bis zum nächsten Planeten. Die Physiker erzählen uns, dass die Atome vor allem aus leerem Raum bestehen. Das kann uns schummrige Gefühle bereiten – wie wir da auf unserem vergleichsweise winzigen Planeten durch den leeren Raum sausen, weit und breit sonst nichts und wieder nichts? Oder wie die einfachsten Dinge zusammenhalten sollen, wenn sie so viel Leere enthalten, einschließlich unserer selbst? 

Doch das sind Fragen, die uns nur auf eine Spur führen, ohne dass uns deren Beantwortung auf dem spirituellen Weg weiterhelfen würde. Die Spur liegt in der Verunsicherung und Irritation, die solche Spekulationen auslösen können. Sie unterbrechen die Zyklen der Geschäftigkeit und Aktivität, die unsere Tage füllen, sodass keine Leere vorkommen kann. Sie zeigen uns, dass die uns selbstverständliche Welt nur ein winziger Ausschnitt aus dem ist, was es gibt. Und auch, dass das, was uns selbstverständlich erscheint, nur aus Informationen zusammengesetzt ist, die uns unsere Sinnesorgane liefern.

Wenn wir der Spur folgen, lässt sie uns jenseits unserer Alltagswelt suchen. Wie ist die Welt hinter der Welt unserer Erscheinungen? Wenn hier die Welt voller Dinge ist, könnte es sein, dass die Welt dahinter leer ist?

Die erste Form, in der uns die Leere innerlich begegnet, ist die Langeweile. Sie entsteht häufig, wenn wir aus dem Getriebe des Alltags aussteigen und keine Anforderung auf uns wartet oder keine passende Unterhaltung bereit steht. Auch der Mangel an kreativen Impulsen als Folge von Auszehrung und Erschöpfung durch den Druck des Erwerbslebens kann hinter der Langeweile stecken. 

Wir leiden an der Länge der Zeit, die sich vor uns ausdehnt und verzweifelt nach einer Überbrückung sucht – dorthin, wo wieder Land in Sicht ist. Jetzt gerade „weiß ich nichts mit meiner Zeit anzufangen“, und irgendwann kommt jemand, der mich aus dieser Leere erlösen wird, oder irgendwann wird es ein Ereignis geben, das mich die Leere vergessen lässt, indem es mir Stoff anbietet, der die Leere vertreibt. Wir leben davon, dass uns das Außen mit Inhalten, Aufgaben, Anregungen, Überraschungen anfüllt. 

Wenn nur unser Inneres da ist, wenn wir z.B. die Augen schließen und das Hören und Fühlen nach innen richten, dann finden wir zunächst da auch wieder nur Inhalte von Außen, Gedanken von und über Inhalte der Welt, die durch den Kopf schwirren, von einem Ende zum anderen. Wenn wir uns davon nicht beirren lassen und darauf warten, dass sich der Denksturm legt, wird Stille spürbar, Leere zwischen den Gedanken. Dieses Nichts zeigt sich ohne unser Zutun, und wir erleben es als angenehm und wohltuend. Es will nichts von uns, braucht nichts von uns. Es zeigt uns, dass wir da sind, und da sein können, ohne anders zu sein, als wir sind. Alles ist richtig so, alles ist gut so. Welch eine Erleichterung, welch eine Befreiung darf sich da ausbreiten. Das ist die Lebenskraft, die wir nur in der Leere, in den Zwischenräumen, in der Stille finden können. Sie ist rein, weil sie keinen Inhalten oder Programmen verpflichtet ist, sondern weil sie nur dem Weiterfließen des Lebensstroms dient.

Je leerer wir in unserem Inneren werden, desto einfacher wird unser Leben. Sorgen über etwas, was noch gar nicht eingetreten ist, fallen weg, Belastungen aus der Vergangenheit, die schon überstanden sind, verschwinden, Dinge, die zu tun sind, werden ohne Aufhebens getan, und die Zeiten dazwischen bleiben frei für das Nichts.

Was zu tun ist, wird immer weniger wichtig, weil es um das Tun selbst geht und nicht um das, was damit bewirkt werden soll. Das Eintauchen in das Nichts lehrt uns, dass die Erfolge, nach denen wir dauernd streben, nur Verschönerungen unseres Lebens sind, die nichts mit seiner Essenz zu tun haben. Ebenso sind unsere Misserfolge und Enttäuschungen unwesentlich, sie bilden die weniger gut gelungenen Dekorationen. Bedeutsam sind diejenigen Erfahrungen, die wir mit unserem vollen und klaren Bewusstsein begleiten, und solche Erfahrungen tragen kein Etikett. Sie sind flüchtig und hinterlassen keine Spur; damit machen sie Platz für die nächste Erfahrung. 

Vielleicht gilt das für unsere Existenz genau so – wir können uns als flüchtige Erscheinungen auf diesem Planeten verstehen, die irgendwann in der Leere verschwinden, dann finden sich neue Erscheinungen ein als Platzhalter, bis auch sie wieder in die Leere eingehen, um Platz zu machen...

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

22.06.2011

Regel 32: Gott als Führer auf dem Weg nach innen

Nothing should stand between yourself and God. Not imams, priests, rabbis or any other custodians of moral or religious leadership. Not spiritual masters, not even your faith. Believe in your values and your rules but never lord them over others. If you keep breaking other people’s hearts, whatever religious duty you perform is no good. Stay away from all sorts of idolatry, for they will blur your vision. Let God and only God be your guide. Learn the Truth but be careful not to make a fetish out of your truths.   

Nichts sollte zwischen dir und Gott stehen. Keine Imame, Priester, Rabbis oder andere Wächter einer moralischen oder religiösen Führerschaft. Keine spirituellen Meister, nicht einmal dein Glaube. Glaube an deine Werte und Regeln, aber verordne sie nie anderen. Wenn du immer wieder das Herz der anderen Menschen brichst, tust du nichts Gutes, gleich welche religiöse Pflicht du erfüllst. Halte dich von jeder Form von Götzendienst fern, weil das deine Vision eintrüben wird. Lass Gott und nur Gott dein Führer sein. Erlerne die Wahrheit, aber achte darauf, kein Fetisch aus deinen Wahrheiten zu machen.


Die Forderung nach einem direkten Kontakt zwischen Mensch und Gott ist vermutlich so alt wie die Kirche und durchzieht ihre ganze Geschichte. Es gibt sie in den verschiedenen religiösen Richtungen und hat zu Aufständen, Kriegen und Kirchenspaltungen geführt. Immer wieder erkennen die Menschen: Kein beamteter Vertreter des Göttlichen soll sich in den Kontakt mit Gott einmischen oder gar ihn vermitteln.

Das hierarchische Bewusstsein hat die Trichtertheorie erfunden: Gott gießt seine Weisheit in die Engel, diese geben sie weiter an die Bischöfe, diese an die Priester, und das, was dann bei den einfachen und unheiligen Menschen ankommt, ist nur mehr ein Bruchteil des ursprünglich Ausgegossenen. Jede Instanz auf der Stufenleiter von oben nach unten hat einen eigenen Filter, der wegnimmt, wovon er annimmt, dass den Unteren bestimmte Weisheiten vorenthalten werden müssen.

Damit wurden und blieben die Menschen entmündigt und die Religionen konnten sich als Herrschaftsinstrumente etablieren. Was Menschen glauben sollten, wurde vorgeschrieben, und wer davon abwich, wurde den grausamen Elementen des Machtapparates überantwortet. Denn abweichende Glaubensrichtungen mussten als Bedrohungen des Machtmonopols gewertet werden. Die Diskussion und Weiterentwicklung der Lehre konnte damit nur in eng gesetzten Grenzen erfolgen, ohne wirklich jemals aufzublühen. Zu viele kritische Fragen und Reflexionen waren verboten.

Das personalistische Bewusstsein revoltiert gegen solche Bevormundungen und Begrenzungen. Es wird als Frechheit empfunden, wenn ein Amt zu einem Vorrecht an Weisheit verhelfen sollte. Ämter werden durch Andienen an den Machtapparat und seine Gesetzmäßigkeiten erworben, also durch geeignete Verhaltensweisen der Unterordnung. Wer richtig buckelt, kommt nach oben und sorgt dort vor allem dafür, dass wieder richtig gebuckelt wird. Deshalb verbürgt die Innehabung eines Amtes für hierarchische Intelligenz und für sonst nichts.

Weisheit dagegen wird nicht innerhalb von Machtapparaten erworben. Weisheit ist eine wilde Pflanze, die nicht in geordneten und gezähmten Gärten gedeiht. Sie wird oft von Außenseitern erkundet und verkündet. Viele Propheten, Heilige und Erneuerer berichten von direkten Gotteserfahrungen, oft in der Natur und meist in der Abgeschiedenheit. Sie weisen darauf hin, dass Gott nicht durch die Instanzen und Ämterketten spricht, sondern sich seine eigenen Wege in die Herzen der Menschen sucht. Der Glaube verträgt keine Verwaltung, wie ein wildes Tier keinen Käfig überlebt. Der Glaube liebt das Risiko und fordert zum Risiko heraus.

Also ist das Leben abseits und jenseits der Institutionen schwerer und unsicherer. Die Zweifel sind mächtiger, da die Wahrheit gesucht werden muss und nicht einfach in einem heiligen Buch nachzulesen ist oder von einem bestallten Prediger übernommen werden kann. Und jede dieser Wahrheitssuchen ist individuell, ich kann mir von niemandem abschauen, wie man es macht. Ich finde keine Vorbilder für meinen Weg, weil er anders ist als jeder anderer. Ich finde vielleicht Menschen, die mir gute Hinweise geben, indem sie mich darauf hinweisen, wenn ich in die Irre laufe, aber sie können mir nicht sagen, was die nächsten Schritte sind und wann ich ein Ziel erreicht habe.

Einerseits muss ich diesen Weg alleine gehen, andererseits kann ich ihn nicht alleine gehen, denn ich brauche meine Mitmenschen als Wegweiser, Korrektiv und als Begleiter. Ich kann mich leicht in mir selber verirren, indem ich meine Vorurteile und Projektionen für die Wahrheit halte. Dazu brauche ich das Feedback der anderen, das sie mir verbal mitteilen oder das ich indirekt durch Erfahrungen serviert bekomme, die mir zu schaffen machen.

Dieses Spannungsfeld dient dazu, dass ich meine Neigungen zurück stellen kann, meine Erkenntnisse zu verallgemeinern, wie das im verwalteten Wahrheitsapparat geschieht: Was gut und wahr ist für mich, muss es für alle anderen auch sein. Wer meinen Glauben teilt, ist mit mir, alle anderen sind gegen mich. Vielmehr erkenne ich, dass sich meine Wahrheiten in der produktiven Auseinandersetzung mit meinen Mitsuchern dauernd verändern, erweitern und differenzieren.

Der verinnerlichte Machtapparat, der die Menschen zu Glaubenskämpfern, Eiferern und Fanatikern werden lässt, zerbricht an der Bereitschaft, die Spannung zwischen individueller Suche und kollektiver Abstimmung auszuhalten. Machtbeteiligung und Machtstreben wird ersetzt durch kreatives und kommunikatives Wachsen im Glauben. Darin schult sich das Bewusstsein für die systemische Ebene und schafft dort die gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen für die Öffnung zu den letzten Wahrheiten und tiefsten Erkenntnissen.

Im systemischen Glaubenspanorama existiert eine Vielzahl von Wahrheitsperspektiven und Wertsetzungen und alle werden miteinander in Verbindung gesetzt. Keine existiert unabhängig und losgelöst von einer anderen, keine hat einen absoluten Platz und keine steht unbeachtet in einem Winkerl. In diesem Feld können alle Glaubensrichtungen voneinander lernen und miteinander wachsen. Jede wird in ihrer Eigenart und in ihrem besonderen Beitrag geschätzt. Keine kann einen Primat über die anderen beanspruchen.

Wenn diese Atmosphäre aufbereitet ist, sollte es immer mehr Menschen gelingen, in die holistische Ebene vorzudringen. Sie braucht keine Götzen mehr, sondern ermöglicht die freiste Sicht auf das, was die innerste Wahrheit und die klarste Erfahrung von Gott ist. Damit breitet sich der Friede aus auf dieser Welt.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com. 
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

18.06.2011

Regel 31: Die Weichheit des Herzens

If you want to strengthen your faith, you will need to soften inside. For your faith to be rock solid, your heart needs to be as soft as a feather. Through an illness, accident, loss or fright, one way or another, we are all faced with incidents that teach us how to become less selfish and judgemental and more compassionate and generous. Yet some of us learn the lessons and manage to become milder, while some others end up becoming even harsher than before. The only way to get closer to the Truth is to expand your heart so that it will encompass all humanity and still have room for more Love.


Wenn du deinen Glauben stärken willst, wirst du dich innerlich weicher machen müssen. Damit dein Glaube fest wie ein Fels sein kann, muss dein Herz so sanft wie eine Feder sein. Durch eine Krankheit, einen Unfall, Verlust oder Schrecken sind wir alle so oder so mit Vorfällen konfrontiert, die uns lehren, wie wir weniger selbstsüchtig und verurteilend und dafür einfühlsamer und großzügiger werden können. Doch gibt es die einen unter uns, die die Lektionen erlernen und es schaffen, milder zu werden, während einige andere noch verhärteter werden als zuvor. Der einzige Weg, um der Wahrheit näher zu kommen, ist, dass du dein Herz  ausdehnst, sodass es die ganze Menschheit umfassen wird und noch immer Platz hat für mehr Liebe.

Ein starker Glaube bedeutet ein tiefes Vertrauen in das Leben. Das Leben bereitet uns viele Herausforderungen und macht es uns manchmal leichter, manchmal schwerer. Doch es geht weiter, beständig weiter, wie das Fließen unseres Atems. Unser Atem spiegelt dieses Leben, ob es sich gerade in einem ruhigen und harmonischen Bereich bewegt oder ob die Gewässer turbulent und aufgewühlt sind. Wenn wir uns auf den Atem besinnen, können wir spüren, dass er fließt und fließt, auch wenn es manchmal ein aufgeregtes oder hektisches Fließen ist. Dem Atem zu vertrauen, heißt dem Leben zu vertrauen, das ist die Grundlage des Glaubens.


Über den Atem können wir lernen, dieses Fließen nicht nur ruhiger, sondern auch weicher und sanfter zu machen. Wir stellen uns dabei vor, dass der Atem ganz zart das Herz umströmt und einhüllt. Dann weiten wir den Raum, den das Herz einnimmt, und dehnen es über unsere Person aus, vor allem zu Menschen hin, die besonders der Weichheit bedürfen. Sie sind nicht aus böser Absicht, Dummheit oder Faulheit so, wie sie sind, sondern weil sie das Leben dazu geformt hat, wie ein Stein am Grund des Flusses die Form durch die Kraft des Wassers bekommen hat und nicht gefragt wurde, ob er sie gerne so oder anders hätte.
Wenn wir unser Herz ausdehnen, spüren wir, dass es da keine Grenze gibt, sondern dass unser Herz alle anderen Herzen erreichen möchte, sich mit ihnen verbinden möchte. Es ist dann so, als würde die ganze Schöpfung auf den Moment warten, dass sich alle Herzen verbinden und einen gemeinsamen Rhythmus finden. 


Was uns hart macht, sind vor allem unsere Tendenzen, Macht auszuüben, Recht zu behalten und nur unsere eigenen Interessen zu verfolgen. Dahinter steckt immer ein Antrieb aus Angst. Wir meinen, dass wir kämpfen müssen, um überleben zu können, bis in die kleinste Streitigkeit hinein, wie der Suppenteller abgewaschen oder die Seife abgelegt werden soll. 


Angst macht uns hart, weil wir meinen, dass wir uns durch Härte schützen können. Doch gibt es fast immer keine reale Bedrohung, vor der wir uns hüten müssten. Wir befinden uns andauernd in einem Kino, indem ein Horrorfilm gezeigt wird, und nehmen die Geschehnisse auf der Leinwand für die Wirklichkeit, so als würde King Kong gleich in den Zuschauerraum steigen und uns an der Gurgel packen. So spannen wir uns unnötig an – ins wirkliche Kino gehen wir ja auch, damit es spannend ist –, und tun unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden nichts Gutes. Wenn wir unsere Härte nicht besiegen, schädigen wir uns nachhaltig.

Das Tao Te King bringt es auf den Punkt:


Der Mensch tritt ins Leben weich und zart, im Tode ist er hart und starr.
Alle Wesen treten ins Leben weich und zart, im Tode sind sie trocken und hart.
Darum ist das Harte und Starre Zeichen des Todes, das Weiche und Schwache Zeichen des Lebens.
Ist das Heer starr und stark, wird es untergehen.
Ist der Baum hart und stark, wird er gefällt werden.
Das Harte und Starke vergeht. Das Weiche und Schwache besteht. (Lao Tse: Tao Te King)


Wir begeben uns in den Dienst des Lebens, wenn wir daran arbeiten, weich zu werden. Das Tao Te King erinnert uns daran, dass wir Weichheit nicht mit Schwäche verwechseln sollten. Eine von Angst gesteuerte Härte verkörpert keine wirkliche Kraft, sondern ein Überspielen der Schwäche. In dieser Position können wir keine klaren Ziele erkennen und keine stimmigen Unterscheidungen treffen. Wir fixieren uns auf Kurzschlüsse und Fehlinterpretationen.

Die Position der Weichheit ist die der Gelassenheit, des Frei-Seins von Druck und Kämpfenmüssen. In den östlichen Kampfkünsten wird gelehrt, aus der Gelassenheit, die eine präzise Wahrnehmung und eine blitzschnelle Reaktion erlaubt, im Kampf den maximalen Erfolg zu erzielen. Auf die anderen Bereiche des Lebens übertragen, heißt das, dass aus der Entspannung die klarste Kraft erwächst, die uns mit der Wirklichkeit so verbindet, dass wir mühelos das Richtige zum richtigen Zeitpunkt wählen.


Doch da geht es Fertigkeiten in der Lebensbewältigung. Der Weg zur Wahrheit bleibt dort nicht stehen, auch jemand, der großen Erfolg im Leben hat, muss deshalb nicht der Wahrheit näher kommen. Gerade, wer sich auf den Erfolg fixiert und von ihm abhängig macht, vermeidet den Blick in die Tiefe seines Herzens. Erfolgsverliebte Menschen haben häufig die Tendenz, statt für ihre Geschenke dankbar zu sein, ihr Herz zu verschließen, aus Angst, dass die Weichheit und das Mitgefühl, das sie dort finden würde, ihre Erfolgsaussichten schmälern könnte.
So bleibt es für den Weg zur Wahrheit gleichgültig, ob ein Leben erfolgreich oder erfolglos verläuft. Dem/der Weisen bedeutet Gewinn ebensoviel wie Verlust. Wenn er/sie in der Lage ist, das Herz so weit zu öffnen, dass es alles auf dieser Welt einschließen kann, findet sich dort alles ohne Unterschied: der Milliardär und die Bettlerin, die Filmdiva und der Straßenbahnfahrer.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 30: Das Ende der Beschuldigung

The true Sufi is such that even when he is unjustly accused, attacked and condemned from all sides, he patiently endures, uttering not a single bad word about any of his critics. She/he never apportions blame. How can there be opponents or rivals or even “others” when there is no “self” in the first place? How can there be anyone to blame when there is only One?

Der wahre Sufi ist so, dass er, auch wenn er ungerechter Weise von allen Seiten angeklagt, angegriffen und verdammt wird, geduldig aushält und kein einziges schlechtes Wort über seine Kritiker äußert. Er/sie misst niemandem Tadel zu. Wie kann es Gegner oder Rivalen oder sogar „Andere“ geben, wenn es von vornherein überhaupt kein „Selbst“ gibt? Wie kann jemand beschuldigt werden, wenn es nur das Eine gibt?

Der/die Weise zeigt den Menschen den Weg zum holistischen Bewusstsein. Dort gibt es keine Beurteilungen und Abwertungen mehr. Um diesen Zustand zu erwerben, braucht es nicht nur Geduld, eine dicke Haut, eine besondere Leidensfähigkeit oder ein Zurückhalten der eigenen Aggressionen. Es geht um eine Bewusstseinswandlung, die nichts mit emotionaler Disziplin zu tun hat, sondern mit einer Weitung über die eigene Persönlichkeit hinaus.

Deshalb brauchen solche außergewöhnliche Menschen auch keine Bewunderung. Sie verdienen es, nachgeahmt zu werden, aber eben nicht oder nicht nur im Aushalten, sondern im inneren Wachsen. Dieses kann nicht allein durch Training und beständiges Üben erlangt werden. Es ist das Nebenprodukt einer bewussten und achtsamen Lebensführung.  Die Weitung des Menschen geschieht in dem Maß, in dem es ihm möglich wird, mehr und mehr Aspekte, Details und Spielarten der Welt einzuschließen, als das „Eigene“ zu erkennen, eben als ein Eigenes, das einem nicht gehört, sondern zu dem man gehört. 

Wir erkennen, realisieren, dass wir Mitglieder sind in einem großen Ganzen, die Welt genannt. All die witzigen Gestalten, die sich darin aufhalten, all die Skurillitäten und Absurditäten, all die bösen und schlechten, die netten und guten Geschehnisse sind die anderen Mitglieder dieses Panoptikums. Wir sind miteinander verbunden, wir spielen mit im selben Spiel. Die anderen spielen die Rollen, die wir selber nicht so gut ausfüllen können.
An einem Beispiel: Der andere spielt die Rolle des Bösewichts, er repräsentiert unsere bösen Anteile, die in unserem Schatten liegen. So begegnen wir diesem Aspekt von uns selbst, wenn wir auf jemanden stoßen, der uns oder anderen Böses antut. Wenn wir ihn dafür aburteilen, tun wir das mit uns selbst. Zum Beispiel behandelt uns jemand respektlos. Diese Person macht uns auf unsere eigenen Tendenzen zur Respektlosigkeit aufmerksam. Verurteilen wir die andere Person dafür, verurteilen wir uns selbst für unsere eigenen Respektlosigkeiten. 

Natürlich heißt das nicht, dass wir Böses nicht als solches benennen dürfen und uns nicht dafür einsetzen können, es zu verhindern oder zu unterbinden. Wir müssen das tun, um unsere Umgebung wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wenn eine Entgleisung passiert ist. Wir sollten uns dabei aber auch bewusst sein, dass es etwas mit uns selbst zu tun hat, was wir da anklagen, und dass wir uns persönlich nicht über diesen Menschen erheben dürfen im Sinne von  - ich bin der bessere Mensch, weil nicht ich diesen Fehler begangen habe. Alle Menschen haben Schattenbereiche, das ist eine strukturelle Eigenschaft unserer komplexen Natur. 

Wir vermeinen zwar leicht, dass wir selber nichts Böses an uns haben, wenn wir es im Außen wahrnehmen. Aber in Wirklichkeit stärken wir unsere böse Seite, sobald wir auf Böses mit Bösem reagieren. Wollen wir diese Seite in uns dagegen schwächen, gilt es, sie als Schatten anzuerkennen und anzuschauen und sie damit ins Licht zu bringen. Wenn wir sie in unserem Inneren umarmen können, weil sie Teil von uns ist, wird es uns eines Tages gelingen, sie auch im Außen zu umarmen, weil uns da nichts anderes als ein lange ungeliebter Teil von uns selbst begegnet ist. 

Jemand sagt vielleicht: Ich bin doch nicht böse. – Du bist ein Mensch, und es wäre ein Wunder, wenn dir nichts Böses in den Sinn käme. Selbst wenn dem so wäre, gibt es etwas anderes an dir, was unvollkommen und verbesserungswürdig ist. Menschsein heißt, unvollkommen zu sein und zugleich um die Vollkommenheit zu wissen. Die Vollkommenheit ist nur eine Idee, auf die hin wir uns bewegen wollen, weil wir an unseren Unvollkommenheiten leiden. Wir können sie aber nie erreichen, jede neue Erfahrung, die uns das Leben bietet, kann wieder etwas sein, woran wir wachsen. Vollkommenheit würde das Ende des Wachsens und Lernens bedeuten, und damit das Ende des Lebensprozesses.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen

Regel 29 -1: Mit dem Schicksal aktiv umgehen

Destiny doesn’t mean that your life has been strictly predetermined. Therefore to leave everything to fate and to not actively contribute to the music of the universe is a sign of sheer ignorance.  “The music of the universe is all pervading and it is composed on forty different levels. Your destiny is the level where you will play your tune. You might not change your instrument but how well to play is entirely in your hands. ”

Schicksal bedeutet nicht, dass dein Leben streng vorherbestimmt wurde. Deshalb ist ein Zeichen schierer Ignoranz, alles dem Schicksal zu überlassen und nichts aktiv zur Musik des Universums beizutragen. „Die Musik des Universums durchdringt alles und wird auf vierzig verschiedenen Ebenen komponiert. Dein Schicksal ist die Ebene, auf der du deine Melodie spielen wirst. Du kannst vielleicht dein Instrument nicht wechseln, aber wie gut du spielst, ist ganz in deiner Hand.“


Mit dem Wort Schicksal bezeichnen wir alles, was an unangenehmen Überraschungen im Leben passiert, alles, was wir nicht vorhersehen konnten und berechnet haben und was wir nicht beeinflussen können. Es geschieht dort, wo das Leben in seiner Eigenmächtigkeit und Eigensinnigkeit in unsere Zusammenhänge eindringt und sie durcheinander wirbelt. Wir können das Schicksal nicht kontrollieren oder zähmen, es ist mächtiger als unser Wünschen und Wollen.

Jeder Schicksalsschlag ist eine wichtige Gelegenheit für das Lernen des Annehmens, denn wir definieren als Schicksal geradezu das, womit wir nicht zurecht kommen und was wir nicht akzeptieren können. Jedoch bringt uns der Kampf gegen das, was ohnehin schon geschehen ist, keinen Gewinn, sondern vergeudet nur unsere Ressourcen. Wenn wir lernen, das zu akzeptieren, was sich am meisten gegen das Akzeptieren sträubt, haben wir einen wichtigen Schritt zur Überwindung unserer Eigensinnigkeit getan.

Im Anerkennen des Schicksals anerkennen wir, dass eine höhere Macht unser Leben kontrolliert, und dass wir unsere Aktionen nur in dem Rahmen setzen können, der uns von dieser Macht vorgegeben wird. Wir können uns frei bewegen, solange uns die Gesundheit dafür gegeben ist. Aber wir können nicht so schnell laufen wie ein Olympia-Sieger oder alle Yoga-Übungen so ausführen wie ein Schlangenmensch. Werden wir krank, schaffen wir es vielleicht gar nicht mehr aus dem Bett. Wir können alles Mögliche tun, um Erkrankungen vorzubeugen, aber wenn es uns erwischt hat, können wir uns nur in das Schicksal ergeben und in dem verengten Rahmen das tun, was am sinnvollsten ist.

Wir können also nicht das „Instrument“ wählen, so, wie wir nicht unsere Körpergröße oder Augenfarbe oder auch die Ausstattung unseres Gehirns wählen können, dennoch können wir in diesem vorgegebenen Rahmen unsere Fertigkeiten schulen, unsere innere Größe leben, unsere Wahrnehmung schärfen, unsere Geistesgaben mehren. Unser Gehirn setzt uns Grenzen, sodass die meisten von uns nicht über musikalische Fähigkeiten wie Mozart oder Schubert verfügen, aber innerhalb dieser Grenzen liegt es an uns, was wir aus unseren bescheidenen Talenten machen, ob wir sie fördern oder brach liegen lassen.

Es bringt uns auch nicht weiter, wenn wir die, die andere Instrumente zum Spielen bekommen haben als wir, um diese beneiden. Ich habe eine Klarinette, und du eine Geige. Statt der Klarinette schöne Töne zu entlocken, starre ich auf die Geige und meine, dass ich erst Musik machen kann, wenn ich sie habe. Besser ist es, auf unsere eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und sie zur Wirkung zu bringen, indem wir lernen, sie zu entwickeln und zu genießen.

Tun wir das nicht, so missachten wir unsere Gaben, die Geschenke, die wir in dieses Leben mitbekommen haben. Wir haben diese Möglichkeit im Rahmen unserer Willensfreiheit. Und wir haben auch unsere inneren Gründe dafür, wenn, wie schon erwähnt, wir andere Gründe hätten, würden wir unser Leben auch anders führen. Es macht also auch keinen Sinn, wenn wir uns selber oder andere schelten, die Talente zu missachten oder zu vergeuden.

Vielmehr sollten wir unsere Aufmerksamkeit den Gründen schenken, die uns davon abhalten, kreativ und produktiv zu leben, unser Leben zu gestalten statt es an uns vorüberziehen zu lassen. Wenn wir da nachforschen, stoßen wir vielleicht auf Ängste und andere unangenehme Gefühle, die ernst genommen werden wollen. Gelingt uns das, dann wird es uns leichter fallen, wieder zu unserem Instrument zu greifen und unsere einzigartige Stimme zur universellen Sinfonie beizutragen.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

15.06.2011

Regel 28: Der gegenwärtige Moment ist alles, was es gibt.

The past is an interpretation. The future is an illusion. The world does not move through time as if it were a straight line, proceeding from the past to the future. Instead time moves through us and within us, in endless spirals. Eternity does not mean infinite time, but simply timelessness. If you want to experience eternal illumination, put the past and the future out of your mind and remain within the present moment. The present moment is all there is and all that there will ever be.   

Die Vergangenheit ist eine Interpretation. Die Zukunft ist eine Illusion. Die Welt bewegt sich nicht durch die Zeit als wäre sie eine schnurgerade Linie, die sich von der Vergangenheit in die Zukunft bewegt. Statt dessen bewegt sich die Zeit durch uns hindurch und in uns drinnen, in endlosen Spiralen. Ewigkeit bedeutet nicht unendliche Zeit, sondern einfach Zeitlosigkeit. Wenn du die ewige Erleuchtung erfahren willst, verbanne die Vergangenheit und die Zukunft aus deinem Verstand und bleibe innerhalb des gegenwärtigen Moments. Der gegenwärtige Moment ist alles, was ist gibt und alles, was es je geben wird.


Alles, was wir erleben, erleben wir in diesem Moment, im Jetzt. Das Jetzt ist definiert durch dieses Erleben. Es ist nichts anderes als dieses Erleben dessen, was jetzt gerade ist. Die Vergangenheit ist das, was wir nicht mehr erleben können, weil es nicht im Jetzt ist. Ebenso verhält es sich mit der Zukunft.

Wir holen uns gerne die Vergangenheit in die Gegenwart, indem wir uns erinnern. Unsere Erinnerung macht ein Bild aus der Vergangenheit, das durch alle möglichen Einflüsse gefärbt und retuschiert wird. Manchmal „erinnern“ wir uns sogar an Ereignisse, die es nie gegeben hat. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Berichte von Überlebenden des englischen Bombenangriffes auf Dresden im Jahr 1945, der einigen Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat. Viele Überlebende berichten von Tieffliegerangriffen, die sie miterlebt hätten, und schildern genau die Typen der Flugzeuge und die Schäden, die sie angerichtet haben. Es ist jedoch durch die historische Forschung zweifelsfrei bewiesen, dass es solche Angriffe nicht gegeben hat.

Deshalb sollten wir uns immer bewusst halten, dass uns die Vergangenheit nur als Konstruktion zugänglich ist, als Produkt unseres Erinnerungsvermögens, und dass sie keine andere Realität als diese hat. Wir brauchen die Vergangenheit, um uns unserer Identität zu vergewissern und um uns auf unsere Umgebung verlassen zu können. Wir müssen nicht alles in jedem Moment neu erfinden oder entdecken. Doch entgeht uns der Zauber des Moments, wenn wir am Vergangenen festhalten und uns immer wieder darin hineinversenken.

Auch die Zukunft muss sich dem Primat der Gegenwart beugen. Wir erschaffen die Zukunft aus unserer Phantasie, die von Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten geprägt ist. Ohne Zukunft könnten wir nichts planen und organisieren. Freilich ist die Zukunft nie in unserer Macht, immer kann ein unerwartetes Ereignis unsere Planungen über den Haufen werfen. Deshalb müssen wir auch hier immer eine gute Balance halten, zwischen den Träumen von der Zukunft und der realen Erfahrung in der Gegenwart.

Die Zeitlinie stellt auch eine Konstruktion dar, bzw. ein Konstruktionsprinzip, also ein Raster, nach dem wir das Zeiterleben strukturieren können. Natürlich hat die Zeit keine räumliche Form. Die Zeitlinie ermöglicht effektives Planen, wie bei einem Hausbau, bei dem die einzelnen Handwerker in einem Verlaufsprozess eingeordnet sind und genau wissen, wann ihre Arbeiten stattfinden sollen. Sie ermöglicht auch, die Zeit zu messen und zu quantifizieren.

Die Messbarkeit der Zeit gibt uns die Illusion der Beherrschbarkeit, der Macht über sie. In Wirklichkeit haben wir natürlich keine Macht über die Zeit, sondern sie beherrscht uns. Sie läuft weiter und weiter, ob wir das wollen oder nicht. Manchmal möchten wir die Zeit anhalten (nach dem Motto des greisen Faust: „Verweile, Augenblick, du bist so schön“), manchmal möchten wir die Zeit antreiben, damit etwas Unangenehmes schnell vorbeigeht oder etwas Ersehntes bald eintritt. Doch meist schlägt uns die Zeit ein Schnippchen: Wenn sie verweilen soll, vergeht sie umso schneller, wenn wir aufs Christkind warten, schleicht sie unendlich langsam dahin. Deshalb sind wir oft „böse“ auf die Zeit: Sie ist uns zu wenig oder zuviel, aber nie richtig.

Die einzige Möglichkeit, wie wir uns dieser Herrschaft entziehen können, ist, dass wir im Moment bleiben, d.h. von Moment zu Moment präsent sind. Das ist eine Fähigkeit, die nur wenigen Menschen zur Verfügung steht, der wir uns jedoch annähern können, vor allem durch die meditative Übung des Präsentbleibens, z.B. durch die Achtsamkeit auf den Atem. Dann verliert die Zeit an Wichtigkeit und wir versöhnen uns mit ihr. Wir anerkennen eine Dimension, die nicht unserem Zugriff unterliegt und übergeben uns damit wirklich der Zeit, ohne der Illusion, ihrer habhaft werden zu können.

Wenn wir uns die Zeit als Spirale in uns vorstellen, sind wir natürlich  ebenfalls in einer räumlichen Vorstellung. Diese vermittelt uns jedoch ein Bild, das uns auf uns selber bezieht – wie wir als bewusste Wesen weiterschreiten, jeden Moment bewusst erlebend, ohne ihn auf etwas Vergangenes oder Zukünftiges zu beziehen. Wir sind nicht eingespannt zwischen Altem und noch nicht Gewesenem, sondern sind in dem, was wirklich ist. Die Bewegung in der Zeit führt uns nicht weg von uns selbst, sondern näher zu dem, was wir wirklich sind.

Ewigkeit ist dieser Moment, in den ich mich fallen lassen kann.

Und wenn ich noch mehr Zeit hätte, könnte ich noch mehr über die Zeit schreiben....

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 27: Was du aussendest, kommt zu dir zurück

This world is like a snowy mountain that echoes your voice. Whenever you speak, good or evil, it will somehow come back to you. Therefore if there is someone who harbours ill thoughts about you, saying similarly bad things about him will only make matters worse. You will be locked in a vicious circle of malevolent energy. Instead for forty days and nights say and think nice things about that person. Everything will be different at the end of forty days, because you will be different inside.


Diese Welt ist wie ein verschneiter Berg, der deine Stimme im Echo zurückwirft. Wann immer du sprichst, gut oder böse, wird es irgendwie zu dir zurück kommen. Wenn es also jemanden gibt, der dir böse gesonnen ist, macht es alles nur schlimmer, wenn du ähnlich böse Dinge über ihn sagst. Du wirst dich in einem Teufelskreis von boshafter Energie verfangen. Stattdessen sage und denke nette Dinge über diese Person, vierzig Tage und Nächte. Alles wird nach den vierzig Tagen anders sein, weil du innerlich anders sein wirst.


Es mag sein, dass das große Gewebe der Welt jede Information, die ausgeschickt wird, dorthin transportiert, wohin sie gerichtet wird. Wenn wir hinter dem Rücken Böses über jemanden reden, kann es sein, dass diese Person spürt, dass irgendwo von irgend jemanden Böses über sie geredet wird. Wir wissen nicht, ob das Universum wirklich so funktioniert.

Dennoch ist es leichter einsehbar, dass uns böse Gedanken innerlich verspannen, weil sie von einer inneren Angst gesteuert sind. Wir brauchen uns nur vorzustellen, dass wir jemandem gram sind und dabei unseren Körper spüren. Irgendwo zieht sich da etwas zusammen, unsere Atmung schränkt sich ein und wir fühlen uns unwohl und unfrei.

Auch wenn wir manchmal den Eindruck haben, als würde es uns helfen, wenn wir anderen Übel wollen und innerlich oder verbal auf sie losgehen. Doch lösen böse Gedanken oder Worte die dahinter verborgene Angst nicht auf, sondern verstärken sie. Schließlich haben wir jetzt dem Anderen etwas angetan und müssen mit seiner Ablehnung rechnen. Darum beeinträchtigen solche Gedanken und Worte momentan und langfristig unser Wohlbefinden und können auch zu Krankheiten oder neurotischen Verhaltensweisen führen, je öfter wir sie pflegen.

Karma

Aus diesen Zusammenhängen kann das hinduistische Gedankengebäude des Karmas entstanden sein: Alles Böse kommt auf denjenigen zurück, der es getan oder ausgesendet hat. Wer also anderen Unheil wünscht, indem er Flüche ausstößt und sich in Hass badet, verspannt sich und fügt damit seinem Körper und seiner Seele sofort Schaden zu, der, auch wenn er nicht gleich wahrgenommen wird, bei wiederholter Aktion unheilvolle Folgen nach sich ziehen kann.

Umgekehrt: Alles Gute kommt auf denjenigen zurück, der es getan oder ausgesendet hat. Gute Gedanken zu schicken, für jemanden zu beten und gute Taten zu setzen, öffnet die Seele und entspannt den Körper. Dabei werden beide, Körper und Geist, vor Schaden geschützt und bleiben heil. Mit guten Gedanken und Wünschen für andere verbinden wir uns mit dem Menschheitsgewebe, dessen Fäden wie die Milliarden Axone und Dendriten im Gehirn alles mit allem verbinden. Wir lösen uns aus der Vorstellung des Abgeschnittenseins und des Alleinseins, die Urquelle aller Ängste, und vertrauen uns dem größeren Ganzen an.

Wenn wir dessen Fürsorge und Zuwendung für uns spüren können, indem wir uns in unseren Nöten vertrauensvoll an es wenden, können wir uns ganz entspannen und den Moment genießen. Das ist die beste Basis für Gesundheit und Wohlbefinden. Deshalb ist es eine empfehlenswerte Übung, gerade jenen Menschen, die einem geschadet haben oder übelgesonnen sind, gute Wünsche, Licht und Wohlwollen zu schicken – die Folgen dieser Taten, gleich ob sie den anderen Menschen verändern oder nicht, werden uns selber zugute kommen und die Schädigungen oder Bedrohungen bei weitem aufwiegen, unter denen wir leiden.

Warum jedoch laufen ganz offensichtlich böse Menschen gesund und munter herum? Es wäre für die Verbesserung der Gesellschaft sicherlich praktisch, wenn das Karma sofort zuschlagen würde (instant karma). Jemand denkt einen bösen hasserfüllten Gedanken und schon schlägt der Blitz ein. Mittels sofortiger Bestrafung wird jedes schädigende Verhalten radikal abgestellt.

Doch so arbeitet das Universum nicht. Es hat uns mit enormen Kompensationsmechanismen ausgestattet, die es uns erlauben, über längere Zeit Stress auszuhalten und unsere Ängste zu verdrängen. Wir nehmen diese Traumen, die uns zu den schlechten Verhaltensweisen drängen, gar nicht mehr wahr und verstricken uns so sehr in unsere Coping- und Rechtfertigungsstrategien, dass wir keinen Grund erkennen können, unser Leben zu verändern.

Als geübte Verdränger merken wir keine unmittelbaren Auswirkungen unseres Übelwollens und sehen von daher keinen Grund, mit solchen Praktiken aufzuhören. Selbst wenn wir krank werden oder in eine andere Krise schlittern, führen wir es nicht auf die Kleinverspannungen zurück, die entstehen, sobald wir uns in die Bosheitszone begeben.

So braucht es manchmal eine Keule von außen, dass sich etwas wandelt. Der Manager, der sich und seine Mitarbeiter rücksichtslos ausbeutet, geht endlich einmal auf Urlaub und bricht dort mit Herzversagen zusammen. Der böse Diktator wird gestürzt und flieht ins Exil, um dort schwer zu erkranken und bald zu sterben – so ist es schon häufig passiert. Wenn der Druck des Weitermachens gewichen ist, weil die Grundlage des Weitermachens verschwunden ist, brechen die aufgestauten Ängste durch und überfordern die Lebensfähigkeit.

Leid und Schuld

Weshalb aber gibt es so viel unschuldiges Leiden? Weshalb müssen kleine Kinder an Krebs oder sonstigen schlimmen Krankheiten leiden, Kinder, die niemandem Böses zugefügt haben? Wir sollten verstehen, dass nicht böse Taten und Gedanken krank machende Ängste erzeugen, sondern dass umgekehrt die aus Traumatisierungen stammenden Ängste krank machen. Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten, mit diesen Ängsten umzugehen, wenn wir sie nach außen wenden und durch unseren Hass gegen andere projektiv bekämpfen und uns dabei langfristig selbst schädigen.

Leid muss nicht Folge von Schuld sein, wie es die Karma-Lehre behauptet. Es kann auch Leid geben, das durch die Komplexität der Natur, durch Fehlregulationen im Organismus auftritt, ohne dass es mit moralischen Kategorien zusammengebracht werden kann. Vielleicht sind sehr frühe Traumatisierungen die Ursache der Fehlreaktionen, also gravierende Störungen in der frühen Embryonalgeschichte oder in der Entwicklung der Ei- oder der Samenzelle. Vielleicht gibt es Ursachen, die wir noch nicht kennen, vielleicht gibt es Ursachen, die wir nie kennen werden.

Es gibt also Leid aus moralischen Ursachen, wie bei Fehlverhalten, das wir zu verantworten haben, und Leid aus anderen Ursachen, bei dem es keine personale Verantwortung gibt. Wie sollen wir eine personale Verantwortung dafür übernehmen, was wir angeblich in einem Vorleben angestellt haben? Bei wem sollen wir uns da entschuldigen?

Aus meiner Sicht vermischt die Karma-Lehre diese beiden Aspekte und erzeugt damit Schuldzusammenhänge, die wieder unnötiges Leid hervorbringen. Wenn wir anerkennen, dass es Leid gibt, dessen Quelle wir nicht kennen, können wir es leichter tragen, als wenn wir annehmen, dass irgendwann, sie es auch in einem früheren Leben, ein schuldhaftes Verhalten zugrunde liegt.

Soziale Folgen

Es gibt auch noch den Aspekt der Sozialschädlichkeit des „Andere-Schlechtmachens“. Wenn wir auf andere zornig und hasserfüllt sind und über sie lästern, können wir nicht gleichzeitig offen und herzlich bei unseren Mitmenschen sein. Unser Herz ist verschlossen und unser Inneres in Dunkelheit gehüllt. Wir können zwar zu den Anwesenden nett und freundlich sein, während wir zugleich über Abwesende herziehen, doch ist diese Nettigkeit nur Verstellung. Sie kommt aus einer eingeengten Seele.

Darum tun wir unseren Freunden Gutes, wenn wir sie mit den Anklagen gegen unsere „Feinde“ in Ruhe lassen. Wir können unsere Gefühle mit ihnen teilen, sollten aber tunlichst unsere Urteile bei uns belassen und in uns durch die oben genannte Übung oder andere Praktiken auflösen.

Fazit

Die goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu“ wird zur Feststellung: „Was du nicht willst, das man dir tut, das fügst du dir gleich selber zu“. Dann kann die Regel auch so umformuliert werden: „Weil du nicht willst, was man dir tut, füg es dir selber auch nicht zu.“ Oder: „Weil du nicht willst, dass es dir selber schlecht geht, tu den anderen nichts an, dass es ihnen schlecht geht.“

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.