15.07.2011

Regel 40: Unser Leben hat nur Wert, wenn wir lieben

A life without love is of no account. Don’t ask yourself what kind of love you should seek, spiritual or material, divine or mundane, Eastern or Western…. divisions only lead to more divisions. Love has no labels, no definitions. It is what it is pure and simple. Love is the water of life. And a lover is a soul of fire. The universe turns differently when fire loves water.        

Ein Leben ohne Liebe hat keinen Wert. Frage dich nicht, welche Art der Liebe du suchen solltest, spirituell oder materiell, göttlich oder weltlich, östlich oder westlich … Trennungen führen dich nur noch zu mehr Trennungen. Die Liebe hat keine Etiketten, keine Definitionen. Sie ist, was sie ist, rein und einfach. Liebe ist das Wasser des Lebens. Und ein Liebhaber ist eine Seele aus Feuer. Das Universum dreht sich anders, wenn Feuer das Wasser liebt.


Ein Leben ohne Liebe bedeutet, das Lebendige bloß als Ding zu sehen, als Objekt ohne Eigenwert mit einem reinen Nutzungscharakter – die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. All das hat die Aufgabe, für meine Zwecke zu dienen und dafür verbraucht zu werden. Erst recht wird allem anderen, das existiert, also der unbelebten Natur, jeder Eigenwert abgesprochen.
Das materialistische Bewusstsein hat diese Sichtweise perfektioniert und damit die maximal mögliche Entfremdung, zu der Menschen fähig sind, hervorgebracht. Alles, was uns als Ding begegnet, ist uns fremd, weil es seiner Lebendigkeit entkleidet ist und wir nur zu etwas, das lebt, eine innere Vertrautheit entwickeln können. Es ist klar, dass wir uns damit auch von uns selbst abspalten, indem wir, ohne es zu merken, uns zu einem Ding machen, das optimal zu funktionieren hat. Das Lebendige wird zum Gegenüber, dem wir, sobald es sich unseren Zwecken entgegenstellt, mit Aggression begegnen. Wir verbünden uns in dieser Sichtweise schließlich mit dem Tod, indem wir das Leben zum Feind erklären. (Der Tod übrigens entzieht sich diesem Bündnisangebot, er lässt sich nicht instrumentalisieren, sondern meldet sich bei jedem Materialisten auf das Verlässlichste, wenn die Zeit dafür gekommen ist.)
Liebe dagegen ist das Einschwingen auf das Fließen des Lebens. Liebe ist, was Wachstum zulässt und fördert. Liebe gedeiht, wo die Angst eingedämmt worden ist. Die Liebe hat so viele Gesichter, wie es Momente zum Lieben gibt. Wir sind in der Liebe, wenn wir verbunden sind, mit den Menschen, mit der Natur, mit dem, was gerade geschieht, in uns und um uns herum.
Das Feuer der Liebe ist die Leidenschaft für das Leben und sein Wachstum. Wenn es in uns lodert, können wir sagen: Ja, wir können und wir wollen einen Unterschied machen, in dieser Welt, wir können uns mehr für die Kraft des Lebens öffnen und sie bewusst unterstützen und fördern. Die Arbeit, zu der uns das Feuer aufruft, ist es vor allem, unsere Ängste zu lösen und uns damit von unseren Einschränkungen zu befreien.
Das sollte zu unserer Leidenschaft werden, alles beiseite zu räumen, was uns an der Bewusstheit hindert, am Dasein im Moment, am Schwingen mit der Liebe. Wenn wir spüren, dass wir eine innere Blockade gelöst haben und wieder zurück in die Verbundenheit mit dem Leben finden, haben wir die Kraft des Feuers genutzt. Es brennt nieder, was nicht mehr gebraucht wird und im Weg steht. Es symbolisiert die Radikalität des Suchens (es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Weiterbestand des Lebens und der Menschlichkeit) und die Radikalität des Unterscheidens: Es gibt das Eintreten und den Einsatz für das Leben und den dagegen.
Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, heißt es in einem französischen Sprichwort. Liebe lässt sich nicht einsperren von eifersüchtigen Hütern der „wahren Liebe“, sie lässt sich nicht in Besitz nehmen von Definierern und Kleingeistern. Liebe sprengt alle Grenzen und überwältigt deren Wächter im Handstreich. Liebe verändert ihr Antlitz in jedem Moment und zeigt sich immer von einer anderen Seite. Sie überrascht die Sucherin, wenn sie sie in einer Blume am Wegrand oder einem unscheinbaren Menschen auf der Straße findet.
Wenn wir meinen, wir müssten die göttliche Liebe finden, wie sie z.B. von Jesus Christus verkörpert wird, können wir auch dem Fehler verfallen, dass wir einem unerreichbaren Vorbild nachzueifern und dabei die weltliche Liebe übersehen oder geringschätzen: Die Liebe überall dort, wo Menschen andere unterstützen und ihnen dienen. Selbst in wirtschaftlichen Zusammenhängen, in denen jeder Dienst als entgeltliche Leistung definiert ist, kann Liebe wirken – wenn das Tun mit einem Erkennen und Sehen verbunden ist: auf das größere Ganze, das alles umfasst und dem letztlich alles dient. Ich muss also die Liebe nicht an meiner Haustüre abgeben, sondern kann sie mitnehmen und spüren, wenn ich den unbekannten Menschen auf der Straße begegne, wenn ich dem Lenker des Buses, in den ich steige, dankbar bin, wenn ich Mitgefühl für die Mutter habe, die drei kleine Kinder in den Kindergarten bringt, mit dem alten Mann, der schlecht geht oder mit der Geschäftsfrau, die von Stress geplagt ist usw.
Das gilt auch für unsere Tätigkeiten und Berufe, mit denen wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Wo immer und was immer wir arbeiten, können wir es mit Beiläufigkeit oder Widerwillen tun oder aber mit Bewusstheit und Offenheit für den Dienst, den wir dem Ganzen und den anderen Menschen mit unserem Tun erweisen. Dann fließt die Kraft der Liebe in das, was wir häufig nur unter dem Blickpunkt von Pflicht und Zwang sehen. Wir verwandeln damit das Müssen in ein Wollen und verbinden uns mit dem Fluss des Lebens, statt uns gerade in dem, dem wir die meiste Energie und Anstrengung geben, mit innerem Widerstand zu blockieren.
Jesus hat beispielhaft gezeigt, wem besonders unsere Liebe gelten soll: Den Sünderinnen und den Ausgegrenzten, nicht bloß denen, die wir sowieso mögen; den Feinden, die uns zuwider sind, und nicht bloß den Freunden. Es werden immer wieder Menschen in unser Leben treten, mit denen wir „nicht können“ – als Kollegen oder Vorgesetzte, als Nachbarn oder Zeitgenossen in der Medienlandschaft. Statt diese Menschen abzuwerten, wie es unsere erste Reaktion vorgibt, die aus irgendwelchen oberflächlichen Merkmalen der anderen Person entsteht, können wir versuchen, in ihnen einen tieferen Kern zu sehen – einen Kern, der sie zu wertvollen und einzigartigen Menschen macht, uns selbst gleich in unserem Wert und unserer Einzigartigkeit. Wir brauchen uns nur mit diesem Kern zu verbinden, und alles, was wir ihnen vorwerfen oder an ihnen nicht mögen, wird nebensächlich und unbedeutend.
Wir sollen unser Mitgefühl ausdehnen über die Grenzen der Gewohnheit und der Bequemlichkeit, das ist die Botschaft von Jesus. In jedem Mitgefühl, das uns über unseren Binnenraum hinaus ausdehnt, machen wir die Welt insgesamt größer und reicher. Dann wird sie ein Platz, an dem wir wirklich leben und uns in Frieden entfalten können. Indem wir uns auf das Mitgefühl, das uns die Liebe öffnet, einlassen, merken wir, dass es von selbst wachsen will. Es gibt keine Grenze, die diese Expansion aufhalten kann. Sie strebt zum Ganzen und ist erst zufrieden, wenn sie alles umfassen kann. Als Einzelnen kann uns das im Leben nie gelingen, doch in der Verbindung mit allen werden wir ein Netz der Liebe um die Welt spannen. An uns liegt es nur, unseren bestmöglichen Beitrag zu geben.
In diesen Formen und Übungen der Ausdehnung, die das Wesen der Liebe ausmachen, verknüpfen wir das Weltliche mit dem Göttlichen, bzw. nehmen wir seine innere Verschränkung wahr, dass das Göttliche nichts anderes ist als das Weltliche und umgekehrt. (Das Göttliche sehen wir nirgends anders als in der Welt; selbst wenn uns Gott erscheinen sollte, tut er das in der Welt der sichtbaren Dinge. Auch in jeder anderen Form, in der wir mit Gott in Kontakt treten oder er mit uns, begegnet sich Göttliches und Weltliches.)

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com.
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

13.07.2011

Regel 39: Das Ganze bleibt immer das Gleiche

While the parts change, the whole always remains the same. For every thief who departs the world, a new one is born. And every decent person who passes away is replaced by a new one. In this way not only does nothing remain the same but also nothing ever really changes.

Während sich die Teile ändern, bleibt das Ganze immer das Gleiche. Für jeden Dieb, der aus der Welt scheidet, wird ein neuer geboren. Und jede rechtschaffene Person, die stirbt, wird durch eine neue ersetzt. Auf diese Weise bleibt nicht nur nichts das Gleiche, sondern verändert sich auch niemals wirklich etwas.

Die Mystik liebt das Paradoxe, weil es die Konzepte des Denkens durcheinander bringt. Die Ordnung, die das Denken in die Welt bringen will, dient nur seiner eigenen Absicherung und Stabilisierung. Das Denken mit den Mitteln des Denkens auszuhebeln, ist das Wirksame vieler spiritueller Lehren. Das Denken ist es, das Gegensätze schafft, und mit den Mitteln des Denkens können diese Gegensätze wieder überwunden oder entmachtet werden. Eine Gelegenheit, innezuhalten und in die Stille und die Weite einzutauchen …
In der vorigen Regel war noch von der bedingungslosen Bereitschaft zur Veränderung die Rede. Weshalb sollte es Sinn machen, dass das Ganze immer gleich bleibt, während wir selber uns dauernd verändern sollten, bzw. uns bewusst machen sollten, dass wir uns ununterbrochen verändern?
Der Aspekt der Veränderung sorgt für die Unterscheidungen. Das Leben entfaltet sich vom einen zum anderen, schafft permanent Neues und bereichert das Universum. Doch wirkt jede Unterscheidung in einer Verbundenheit. Alles Neue ist verbunden mit allem, was schon da ist, oder, anders gesagt, im neuen Moment ist alles neu. Die Veränderung besteht nur darin, dass die Zeit fortschreitet und immer wieder neue Momente hervorbringt. Ein Moment unterscheidet sich vom nächsten. Doch wieder greift unser Denken zu kurz – die Zeit ist nicht ein Stakkato von aneinander gereihten Zeitpunkten, sondern etwas Fließendes, das sich im Gleichbleiben unterscheidet. Es gibt also diese Momente in Wirklichkeit gar nicht, von denen da die Rede war. Sie dienen nur dazu, unserem Bewusstsein einen Anker zu geben, um es aus der Verwirrung des Denkens zu befreien. Der Anker fällt jedoch bei genauerem Besehen ins Leere. Es gibt keinen Gegenhalt im Fluss des Lebens. Und wir brauchen ihn nur so lange, als wir in der Schwerfälligkeit unseres Denkens festhängen, um uns aus dieser Plumpheit herauszuhieven. Sobald wir mit der Leichtigkeit des Fließens verbunden sind, benötigen wir keine Konzepte und Erklärungen mehr.
Das Ganze ist unsere Heimat. Die Veränderung ist unsere Reise. Sie führt uns durch viele Gebiete, solche, in denen wir uns zuhause fühlen können, und andere, die uns fremd sind und bleiben. Alle diese Orte und Zeiten gehören zum Ganzen, und das Leben führt uns dorthin, damit wir es noch besser kennen lernen. Allmählich, auf unseren Reisen in den äußeren und inneren Welten, dämmert uns, dass in allen Orten und Zeiten das Gleiche steckt, dass sie nur Variationen des einen großen Themas sind. Es wird von den Mystikern oft in Bildern ausgedrückt, wie der Tropfen im Ozean oder das Sandkorn am Strand. Wir sind die winzigen Partikel und wir sind das große Ganze, Wir sind unendlich wichtig und unendlich unwichtig. Alles, was wir für uns selber, in unserem kleinen Ich, für wichtig nehmen, ist in der größeren Wirklichkeit unwichtig, alles, was wir jetzt gar nicht zur Kenntnis nehmen, ist in der größeren Wirklichkeit das eigentlich Wichtige.
Der Dieb, der stirbt, ist der Dieb in uns, den wir nicht mehr brauchen. Der Dieb, der neu geboren wird, ist die nächste Schicht des Teiles von uns, der stehlen will. Solche Schichten werden auftauchen, bis wir alle diese Teile erkannt und verabschiedet haben. Dann braucht es keine Diebe mehr, weil es nichts mehr zu stehlen gibt. Wir erkennen, dass alles unseres ist, weil wir das Ganze sind, und nichts gehört uns, weil wir nur ein Teil sind.
Genauso verhält es sich mit der Rechtschaffenen. Sie ist der Teil von mir, der alles richtig und ordentlich machen will und niemandem etwas zuleide tun möchte. Auch sie muss verabschiedet werden, um einer weiteren Sicht von Menschlichkeit Platz zu machen, in der es keine Rechtschaffenheit braucht, weil alles seine Richtigkeit hat und alles in seinem Sein anerkannt wird.
Im Ganzen gesehen, verringert sich im Prozess der Bewusstwerdung, den jedes Einzelwesen und die gesamte Menschheit durchläuft, das Leiden und die Angst, die eine Folge der Unbewusstheit sind. Es verringern sich die Fixierungen auf Rollen und Persönlichkeitsaspekte. Dafür wächst der Raum, den die Liebe und die Lebensfreude einnimmt. Das Ganze bleibt sich selbst gleich und verändert sich zugleich und wächst in diesem Prozess. Es ist die Kraft der Evolution, die dem Ganzen innewohnt, die dieses Wachstum bewirkt und befördert.
Auch wenn es in planetarischen und intergalaktischen Maßstäben ein verschwindend geringes Wachstum ist, das sich da auf diesem winzigen Sternchen im weiten Raum abspielt, ist es für uns von höchster Bedeutsamkeit, um diese Kraft des Wachstums zu wissen. Wir sollten sie durch uns durch wirken lassen, anders gesagt: wir brauchen nur zuzulassen, dass sie durch uns hindurch wirkt und dass wir dieses Wirken mit unseren Kräften und unserer Bewusstheit stärken.
Denn das kann unser Beitrag dazu sein, dass das menschliche Leiden verringert wird und die Kulturen, die Gesellschaften und die Räume der Liebe auf dieser Welt nicht nur in ihrem Bestand gesichert werden, sondern weiter wachsen und sich entfalten, damit sie den Menschen und der Welt mehr und mehr Segen bringen können.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com.
In deutscher Übersetzung wird das Buch 2012 im Droemer Verlag erscheinen.

09.07.2011

Regel 38: Das Leben ändern

It is never too late to ask yourself, “Am I ready to change the life I am living? Am I ready to change within?” Even if a single day in your life is the same as the day before, it surely is a pity. At every moment and with each new breath, one should be renewed and renewed again. There is only one way to be born into a new life: to die before death.

Es ist nie zu spät, dich selber zu fragen: “Bin ich bereit, das Leben zu ändern, das ich lebe? Bin ich bereit, mich innen zu ändern?“ Selbst wenn ein einziger Tag in deinem Leben der gleiche ist wie der Tag vorher, ist das sicher schade. In jedem Moment und mit jedem neuen Atemzug sollte man erneuert und wieder erneuert sein. Es gibt nur einen Weg, in ein neues Leben geboren zu werden: Vor dem Tod zu sterben.

Ändern heißt sterben, das loslassen, was uns zur vertrauten Gewohnheit geworden ist, was uns Sicherheit gibt, von äußeren Dingen bis zu dem, was wir in uns selber über uns festhalten. Wer bin ich, und was davon kann sich ändern, und was steht unverrückbar fest, kann nicht aus den Angeln gehoben werden? Was sind die Kernstücke meiner Identität? Und was würde passieren, wenn selbst diese Kernstücke sich verändern?
Ich stoße an die Grenze der Leere, dort, wo alle Konzepte, durch deren Bestehen mein Leben in ein Raster eingeordnet war, verloren gegangen sind, leicht wie die Wolken am Himmel. Es gibt keine Koordinaten mehr, die mich als Fixpunkt ausweisen, weil der Nullpunkt zu wandern begonnen hat. So sterbe ich in den Moment der Leere hinein, frei und ungebunden wie ein Vogel, allen Schwerkräften enthoben.
Innerlich frei bin ich erst, wenn ich bereit bin, mich dauernd ändern zu lassen, also mich ganz dem anzuvertrauen, was das Leben mit mir vorhat, ohne Widerstand und Sturheit. Doch was heißt es, den Eigensinn aufzugeben? Passe ich mich nur an wie ein Wäschestück auf der Leine jedem Windstoß? Tue ich nur mehr das, was andere von mir wollen? Wer oder was ist dieses Leben, dem ich mich hingeben soll?
Das Leben ist das, was sich selbst dauernd ändert, was jeden Tag frisch beginnt und in neuer Form ablaufen lässt. Was gleich bleibt, sind unsere Vorstellungen, unsere Konzepte von diesem Leben. Wir tun so, als wäre das Bett, aus dem wir am Morgen heraussteigen, das gleiche, wie das, in das wir am Abend hineingestiegen sind. Doch woher wollen wir das wissen? Was uns selber betrifft, können wir schwerlich leugnen, dass wir andere sind als die die schlafen gegangen sind, bereichert um Träume, Erholung und Regeneration.  
Sich einzuschwingen auf die Veränderungen des Lebens ist vielleicht die höchste Lebenskunst, die wir als Menschen erwerben können. Doch auf welche Welle, die uns das Leben bietet, sollen wir aufspringen, welche sollen wir vorbeirollen lassen, weil sie nicht für uns passt? Wir sind schon am Holzweg, wenn wir nach einer Regel fragen, die uns verraten soll, was zu tun und was zu lassen ist. Es gibt keine Regel, nach der das Leben uns jeweils das für uns Beste am Präsentierteller serviert. Wir können nur von Moment zu Moment schauen, was uns das Leben bietet und darauf achten, welche Impulse unser Inneres dazu bereitstellt.
Je freier wir uns von unseren konditionierten Begierden und von den daraus gespeisten Erwartungen und Illusionen werden, desto klarer können wir in uns selber unterscheiden: Was fühlt sich stimmig an und was lenkt mich nur ab von meiner Bestimmung? Das Leben gibt uns wieder in jedem Moment das Feedback auf unsere Entscheidung, auf unsere Handlungen und stellt uns damit vor die nächste Weggabelung.
Da dieses Leben zugleich in einem Zusammenspiel des Inneren und des Äußeren ist, da also das Leben in uns selber in jedem Moment wirkt, gibt es keine falschen Entscheidungen, keine falschen Handlungen, kein verfehltes Leben, keine Irrtümer und keine Irrwege. Unser Inneres mit seinen Bewertungs- und Entscheidungsvorgängen ist auch nur Teil der gesamten Orchestrierung und erscheint nur unserer Kurzsichtigkeit als etwas, das nur uns gehört und das an einem anderen Ort und nach einer anderen Logik abläuft wie das Äußere. Vielmehr wirkt das Leben durch uns durch, indem es uns die Einschätzungen des Äußeren und die daraus abgeleiteten Handlungsorientierungen anbietet, mit denen wir an der Welt mitwirken.
Scheinbar können wir unser Leben dann versäumen, wenn wir nicht wahrnehmen, was uns das Leben gerade bietet. Das Gefühl der Langeweile dient dazu, uns darauf hinzuweisen, dass wir gerade etwas Wichtiges übersehen, eine Überraschung, die uns das Leben gerade in diesem Moment bereitgestellt hat. Statt also der Langeweile zu verfallen oder hektisch nach einer Ablenkung zu suchen, die uns die Langeweile vertreiben soll, können wir schauen, was uns denn genau dieser Moment als Geschenk anbietet – eine Schwalbe, die vorbeifliegt, ein Regentropfen, der auf der Fensterscheibe zerplatzt, ein Atemzug, der sich wie neu anfühlt…
Doch ist auch das scheinbare Versäumen des Lebens ein Teil des Lebens, ein Teil, der immer kleiner wird, je mehr die Bewusstheit in uns wächst. Bewusstheit heißt, dass wir das sich Verändernde am Leben in den Blick und uns ihm anschließen, während wir das scheinbar Gleichbleibende am Rand mitlaufen lassen. Sobald sich das Gleichbleibende in den Vordergrund drängt, sind wir aus der Moment-Bewusstheit herausgefallen und befinden uns im Denkmodus und unterliegen vermutlich einem angstgesteuerten Muster.
Bewusstheit heißt auch, dass jeder Moment den vorigen sterben lässt, dass nichts aus der Vergangenheit gerettet werden kann und dass jeder Moment ein absoluter Neubeginn ist, eine neue Zeit eröffnet und einen neuen Menschen hervorbringt. Deshalb sterben wir, sobald wir bewusst sein, in jedem Moment. Wir lernen das Sterben und lernen am Sterben, sodass uns der „große“ Tod nicht mehr überraschen oder schrecken kann.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 37: Eine Zeit zum Lieben, eine Zeit zum Sterben

God is a meticulous clockmaker. So precise is His order that everything on earth happens in its own time. Neither a minute late nor a minute early. And for everyone without exception the clock works accurately. For each there is a time to love and a time to die.

Gott ist ein akkurater Uhrmacher. So präzise sind seine Anordnungen, dass alles auf der Erde in seiner eigenen Zeit geschieht, weder eine Minute zu spät noch eine Minute zu früh. Und für jeden ohne Ausnahme funktioniert die Uhr genau. Für jeden gibt es eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu sterben.


Der Gott als Uhrmacher ist ein Bild, das die Deisten im 18. Jahrhundert geprägt haben. Im Sinne des zu dieser Zeit in den Bildungsschichten vorherrschenden materialistischen Paradigmas besagte es, dass Gott am Anfang die Schöpfung eingerichtet habe mit einem genauen Programm wie ein Uhrwerk, Symbol höchster feinmechanischer Handwerkskunst, und das Programm laufe so ab wie vorgesehen, bis die Federn müde und die Zahnräder schadhaft werden, also bis ans Ende der Tage dieser Erde. Diese Annahme besagte, dass Gott sich nicht weiter um die Welt kümmere und sie ihrem Lauf überlasse, sodass es keinen Sinn mache, sich bei ihm über mangelnde Zuwendung und Fürsorge zu beklagen.

Um das Zitat zu verstehen, sollten wir uns gerade von diesem mechanistischen Bild verabschieden. Es geht hier vielmehr um die Idee der Vorherbestimmung all dessen, was passiert, so, als ob es gemäß einem Uhrwerk abliefe. Wenn jetzt die Milch überkocht oder der Bus Verspätung hat, ist es so bestimmt und kann nicht anders sein. Natürlich könnte es – der Möglichkeit nach –anders sein, aber die Wirklichkeit gibt es in jedem Moment nur einmal, in einer einzigen und einzigartigen Version. Deshalb macht es keinen Sinn, daran herumzumäkeln und sie anders zu wollen, als sie ist. Ich kann den Topf von der Herdplatte nehmen und die verkochte Milch aufwischen, ich kann aber nicht die Milch in den ungekochten Zustand zurückversetzen, ich kann ein anderes Verkehrsmittel nehmen oder zu Fuß gehen, aber nicht die verlorene Zeit zurückholen.

Aus dieser Idee können wir eine große Gelassenheit gewinnen, dass wir alles so annehmen, wie es ist, ob es nun in unsere eigenen Pläne und Vorstellungen passt oder nicht, ob es uns angenehm ist oder nicht. Wir brauchen nicht mit dem zu hadern, was geschieht, weil es ohnehin so geschieht, wie es geschieht. Unser Hadern ändert daran nichts, außer dass wir uns ein zusätzliches Problem schaffen – das eigentliche Problem und das Hadern darüber. Natürlich ist das Hadern auch Teil des Uhrwerks, und ebenso, dass irgendwann von irgendwoher die Idee kommt, dass genug gehadert wurde und es ohne Hadern auch gehen könnte und damit das Leben leichter wird.

Wenn wir uns auf diese Idee einlassen, akzeptieren wir eine höhere Intelligenz „über“ uns, die uns weit überlegen ist und unendlich mehr weiß und erkennt als wir selber jemals begreifen könnten. Das ist die Idee Gottes im Vergleich zu uns selbst, die jenseits all dessen, was uns noch begreiflich ist, angesiedelt ist. Wir anerkennen mit dieser Idee die Beschränktheit unserer Modelle und Erklärungsversuche und müssen weiter nicht mehr quälerisch nach allem suchen, was der Grund unserer Belastungen und Beschwernisse sein könnte. Erklärungen sind dann nur mehr Erklärungsversuche, die wir machen, weil wir gerade Lust dazu haben, ohne dass wir dadurch eine Problemlösung erwarten. Probleme lösen sich in dem Maß und in der Richtung, die dafür vorgesehen ist, ob mit oder ohne unser Zutun.

Solcherart entlastet und befreit von der Selbstquälerei bleibt uns Zeit und Energie für anderes, z.B. für das Lieben. Eine Zeit zum Lieben gibt es immer, jeder Moment wartet darauf, dass wir es „tun“. Nicht immer können wir uns mit dem Moment und seiner Erwartung verbinden, häufig sind wir verstrickt in den Wirrnissen des Denkens und Fühlens, voll und ganz beansprucht von unserer hungrigen Selbstbezogenheit.

Seit jeher sollte die Besinnung auf die höhere Weisheit, die hinter allen Vorgängen steckt, uns aus dieser Verhexung befreien und den Blick darauf lenken, dass wir uns nicht vordringlich und fortwährend um uns selber und um unser Wohlbefinden kümmern müssen, da wir ja behütet und getragen sind. Dann öffnet sich unser Blick von selbst nach außen, zu denen, die um uns sind. Dann ist unser Blick nicht darauf fixiert, was sie uns wegnehmen oder antun könnten oder worin sie uns bedrohen, sondern darauf, was Gott in sie gelegt hat als Schätze und Kostbarkeiten und was darauf wartet, von uns entdeckt zu werden.

Die Zeit zum Sterben bereitet uns nur dann Kummer, wenn wir aus der Zeit des Liebens gefallen sind. In diesen Fällen kann es sein, dass uns bewusst wird, dass wir eines Tages dieses Leben beenden, wie wir soeben dieses Leben, das im Lieben besteht, beendet haben (meist ohne zu wissen, warum und wie, ja sogar dass es passiert ist). Sofort macht uns der Gedanke an das Sterben Angst, weil noch so vieles offen ist. Wir denken dann, was alles noch zu tun wäre, und dass lange nicht alles erledigt ist. Die Liebe ist langmütig und braucht keine Betriebsamkeit, sie führt in den Moment, und dieser ist immer in sich vollkommen.

Weshalb ist uns der Tod ein derartiges Problem? Philosophen haben den Menschen als „Sein zum Tode“ definiert, als ein Wesen, dessen ganz Tragik durch das Wissen um sein Ende gekennzeichnet ist. Warum können wir nicht einfach gehen, in jedem Moment, aus dieser Form der Existenz ins Unbekannte?

Sicher will niemand die Schmerzen, die häufig mit dem Sterben verbunden sind, aber Schmerzen gehören ja zum Leben, und solange Schmerzen anhalten, leben wir noch. Und sicher haben wir Angst vor dem Unbekannten, dem Namenlosen, das auf das Sterben folgt. Wohin geht dann die Reise? Vor ein himmlisches Gericht, in diverse Bardoräume, über einen Fluss oder einfach ins Nichts?

Das Typische an der Grenze des Todes ist, dass wir nicht wissen können, was sich dahinter zeigt. Wissen ist immer an eine sinnliche Erfahrung verbunden, die in einem lebendigen Gehirn verarbeitet wird. Der Tod ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Sinnesorgane und das Gehirn aufgehört haben, zu funktionieren und damit alle Informationen, die dort gewonnen und weiterentwickelt werden, gelöscht und verschwunden sind. Es gibt also auch nichts mehr, das Angst empfinden könnte – aus den Berichten von Nahtoderfahrungen wissen wir, dass es hinter der ersten Schwelle auf dem Weg zum Tod keine Angst mehr gibt. Wenn wir keine Angst empfinden können, wird uns dann nur mehr Licht und Glück durchfluten? Die Nahtoderfahrenen sind oft, nicht immer, aus solchen Zuständen zurückgekommen, deshalb können sie auch nicht berichten, was nachher passiert, nachdem auch die zu diesen Erfahrungen gehörigen Funktionskreise zusammengebrochen sind.

Wenn wir Abschied nehmen, nehmen wir auch Abschied von unseren Liebsten. Die Menschen, mit denen wir am meisten in unserem Leben geteilt haben, müssen wir zurück lassen. Wir haben viel gegeben, wir haben viel empfangen. Wenn wir uns bewusst mit dem Tod konfrontieren, erkennen wir, dass ein Zyklus abgeschlossen ist. Es gilt jetzt, dass wir weitergehen und dass auch unsere Liebsten weitergehen. Die Liebe, die uns verbindet, verändert ihre Form, nicht ihren inneren Gehalt.

Wenn wir in der Liebe sind, sind wir mit dem Leben und seiner Kraft der Weiterentwicklung verbunden. Dann kann uns kein Gedanke an das Sterben Schrecken einflößen. Sicher leben wir gerne, aber ist es so wichtig, dass gerade wir selber für immer weiterleben? Neues Leben entsteht fortwährend und andauernd, altes Leben tritt ab. Ein großer Zusammenhang umgibt all diese Vorgänge und webt sie ein in einen riesigen Teppich aus Geschichten. Und jede Geschichte hat einen Anfang und braucht ein Ende. Erst wenn die eine Geschichte beendet ist, kann die nächste beginnen. Alle diese Geschichten sind Lebensgeschichten, und Lebensgeschichten sind immer auch Liebesgeschichten, also beendet unser Sterben eine Liebesgeschichte und eine neue beginnt, und neue Protagonisten spielen darin ihre Rolle. Wir haben unseren bescheidenen Knoten zu diesem Netz beigesteuert, mehr war nicht zu tun, und auch nicht weniger.

Wohl geziemt es sich, dass wir dem Tod Respekt entgegen bringen, er ist eine starke Macht, wir können ihm aber auch mit Vertrauen begegnen, wie einem Führer, der uns in ein unbekanntes Land geleitet, mit viel Erfahrung und Sicherheit, wie einem Freund, der uns einen, den letzten Dienst erweist. Genauso bringt er uns Respekt entgegen, dass er uns erst dann zur Verfügung steht, wenn die Zeit gekommen ist, die uns zugemessen ist. Wir können und sollen darauf vertrauen, dass die Zeit, die uns zum Lieben überlassen wird, das genau richtig Maß hat, und dass der Tod dann auf uns wartet, wenn unsere Uhr abläuft. In diesem großen Bogen des Vertrauens, das auch noch den Tod einschließt, kommen sie zusammen: Die Zeit des Liebens und die Zeit des Sterbens.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com. 
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 36 - Geben und Nehmen

This world is erected upon the principle of reciprocity. Neither a drop of kindness nor a speck of evil will remain unreciprocated. Fear not the plots, deceptions or tricks of other people. If someone is setting a trap remember so is God. He is the biggest plotter. Not even a leaf sits outside of God’s knowledge. Simply and fully believe in that. Whatever God does He does beautifully.

Diese Welt ist auf dem Prinzip der Reziprozität gegründet. Weder ein Tropfen von Freundlichkeit noch ein Funken des Bösen wird ohne Rückwirkung bleiben. Fürchte dich nicht vor den Hinterhältigkeiten, Täuschungen oder Tricks von anderen Menschen. Wenn jemand eine Falle aufstellt, denke daran, dass das Gott auch so macht. Er ist der größte Verschwörer. Kein einziges Blatt befindet sich außerhalb Gottes Wissens. Glaube einfach und ganz daran. Was immer Gott macht, macht er wunderschön.

Das Gesetz der Reziprozität besagt, dass das, was gegeben wird, wieder zurück kommt. Die Gesamtenergie bleibt erhalten, es finden nur Umwandlungen in der Form, welche die Energie annimmt, statt. So haben wir es von den Physikern gehört. Also gibt es nur Transformationsprozesse, die eine Form der Materie verwandelt sich in eine andere, und das Ausmaß des Ganzen bleibt immer gleich. Alles, was existiert, gibt fortwährend vom Eigenen und nimmt vom Anderen, und die Summe all dieser Aktionen ändert sich dadurch nicht.
Wie ist es unter den Menschen? Hier gibt es unüberblickbar viele Ebenen, auf denen ein Austausch stattfindet, vom Atmen über die sozialen und ökonomischen Prozesse bis zu ätherischen und feinstofflichen Bereichen. Eine detaillierte Erörterung all dieser Vorgänge und der ihnen innewohnenden Logiken ist in diesem Rahmen natürlich nicht möglich.
Da wir eine Neigung haben, Komplexitäten zu reduzieren und die Welt damit überschaubarer zu machen, finden esoterische Vereinfachungen der Reziprozität viel Beachtung, wie z.B. das Gesetz der Attraktivität, das besagt, dass wir immer das anziehen, was wir aussenden („The Secret“). Wir sollten bei solchen Konzepten darauf achten, dass sie zu einem Machbarkeitswahn verleiten: Wenn wir nur richtig aussenden, kriegen wir genau das, was wir uns wünschen. Das Universum ist dazu da, unseren Wünschen zu dienen. Wir können, wenn wir uns auf die richtige Weise auf das große Ganze einschwingen, alles erreichen, was wir uns nur erträumen. Wenn wir es nicht schaffen, liegt der Fehler bei uns, wir haben die entsprechenden Techniken nicht konsequent genug angewendet.
Das ist die Schiene des materialistischen Bewusstseins, das glaubt, nur die passenden Verfahrensweisen erschaffen zu brauchen, um die Welt beherrschen zu können und sich solcherart alle Wünsche erfüllen zu können. Wir können aus Stroh Gold gewinnen und damit fortdauernd unsere Reichtümer mehren, mehren und mehren. Das ist das Märchen der kapitalistischen Macher, und solche Märchen werden gerne von den esoterischen Propheten abgekupfert.
Esoterik kann meiner Ansicht nach von Spiritualität dadurch unterschieden werden, dass die erstere sich nicht klar, eindeutig und unwiderruflich von Manipulation und Egostärkung unterscheidet. Viele esoterische Erkenntnisse werden zum Zweck der individuellen Lebensverbesserung und Selbststeigerung vermarktet und gekauft. Spirituelle Erkenntnisse „bringen“ in diesem Sinn nichts, sondern können im besten Fall eine Person erreichen und berühren, sodass sich in ihr etwas ändert und damit die Welt eine neue wird. Wenn wir auf  Weisheiten stoßen, die uns ansprechen und anpacken, können wir darauf achten, was sich in uns weitet: Unser liebendes Herz oder unser gieriger Bauch.
Was können wir aus dem Konzept der Reziprozität für unsere Lebenspraxis gewinnen? Ich möchte hier versuchen, den Bereich des Gebens und Nehmens näher zu beleuchten. Ausgehend von dem Bild des Menschen als Egomanen glauben wir von uns selbst, dass wir lieber nehmen als geben. Wir kennen deshalb viele Regeln, die uns das Geben erleichtern sollen: Gebe, und es wird dir gegeben. Was du willst, dass dir gegeben wird, gib zuerst selber. Geben ist seliger als Nehmen, usw. Die Befolgung dieser Regeln fällt uns ja nicht immer leicht, weil sie unserem Eigensinn entgegenwirken.
Die Erkenntnis aber, die in ihnen steckt, besagt, dass wir in uns die Möglichkeit haben, den Lauf der Dinge zu verändern, in die Richtung, die dem Leben dient oder in jene, die ihm schadet, die Richtung also, die die Liebe mehrt oder jene, die sie schmälert. Wir finden immer wieder Angelpunkte in unserer eigenen Geschichte, im Grunde in jedem Moment. Angelpunkte sind solche, an denen etwas Neues beginnen will. Wenn wir diesen Neubeginn bewusst setzen, dann hören wir auf, die alten Fäden wieder und wieder weiterzuspinnen, und geben stattdessen: Wir geben dem Leben eine neue Richtung, eine, die öffnet und freier macht. Wir hören auf zu nehmen, also das Bereitstehende für unsere Zwecke zu nutzen, die ausgefahrenen Geleise zu befahren – wir springen „über unseren Schatten“.
Denn zum Schatten wird das Verbrauchte und Bequeme, an dem wir uns festgeklammert hatten, sobald es verflossen war und hinter uns lag. Folgen wir hingegen dem Mut, Neues auszuprobieren und damit aus der tiefen inneren Quelle der Kreativität zu geben, das Leben zu bereichern und zu verschönern, dann bewegen wir uns aus dem Schatten heraus, zur Sonne, zum Licht. Was wir für dieses Geben zurück bekommen, spüren wir im Moment, in dem wir das Neue vollbringen: Ein einfaches, aber klares Gefühl der Freude und Befriedigung stellt sich ein. Das ist die sofortige Belohnung für unsere Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit dem Leben gegenüber.
Das Leben gibt uns also die unmittelbare Anerkennung, sobald wir selbstlos und uneigennützig gegeben haben. Somit stellt sich das reziproke Gleichgewicht sofort ein und es bedarf keiner weiteren Gegenleistung. Der Zyklus schließt sich im Akt des Gebens und in der unmittelbaren Rückmeldung des Lebens.
Wir neigen allerdings dazu, gleich den nächsten Zyklus zu öffnen und damit zu übersehen, dass wir die Belohnung schon bekommen haben. So erwarten, fordern oder wünschen wir uns eine andere Form des Bekommens, sobald wir gegeben haben. Wenn ich A gebe, erwarte ich, B zu bekommen. Damit enge ich die Welt ein auf B, nur B kann mich zufrieden stellen; auch wenn ich C bekomme, bin ich enttäuscht (außer C ist eine Steigerung von B, das kann mir über die Enttäuschung hinweghelfen, wenn ich also für etwas, was ich jemandem gegeben habe, statt der Einladung zu einem Getränk die Einladung zu einem Abendessen kriege.) Jedenfalls tue ich so, dass die Welt, also meistens die anderen Menschen, genau wissen sollen, was ich brauche, um mich reziprok ins Gleichgewicht zu bringen.
In vielen Bereichen funktioniert die Wirklichkeit annährend so – ich nehme eine Ware und gebe dafür das Geld her, das auf dem Preisschild steht. Das ökonomische = materialistische Bewusstsein hat die Welt so eingerichtet, dass möglichst jedes Ding und jedes Tun einen eindeutigen Zahlenwert bekommt, eine Quantifizierung, die den zu erbringenden Gegenwert ausweist.
Von daher kommt auch die folgende Idee: Ich produziere, also gebe einen Wert, z.B. eine Torte, die ich produziert habe, und will dafür einen Gegenwert, z.B. einen bestimmten Geldbetrag. Eben diesen Zusammenhang hat Karl Marx als Entfremdung beschrieben. Für unser Thema heißt das, dass wir uns von unserem eigenen Tun entfremden, wenn wir es einer Quantifizierung unterwerfen, es ist dann nicht mehr unser eigener Beitrag zur Welt, sondern ein Produkt, das der Logik der Warenwelt unterliegt.  Eine der Folgen dieser Form der Reziprozität liegt darin, dass nicht nur die Ergebnisse menschlicher Arbeit verdinglicht werden, sondern außerdem, dass diese Dinge dann quantifiziert, d.h. in Zahlenwerte umgewandelt werden. Schließlich bleiben nur noch Zahlen, aus denen die Innenwelt des kapitalistischen Menschen besteht, dessen Befindlichkeit parallel zum Steigen und Fallen der Zahlen seiner Kontostände abläuft.
Sollen wir also für nichts mehr Geld verlangen? Die Gesellschaft, die ohne Geld funktioniert und trotzdem einen hochkomplexen Austausch von Waren und Dienstleistungen regeln kann, muss erst erfunden werden. Bis dahin müssen wir mit ihr leben und ihre Nachteile in Kauf nehmen. Wenn wir uns bewusst machen, was in den ökonomischen Prozessen einer kapitalistischen Welt abläuft, können wir zugleich die menschliche Dimension dieser Austauschvorgänge lebendig erhalten. Wir können uns immer wieder vergegenwärtigen, dass in jedem Ding, das wir erwerben, die Arbeit von Menschen steckt, und dass auch jeder, der uns das Ding verkauft, ein Mensch ist, der gibt. Es liegt an uns und unserer Bewusstheit, ob wir dem Kapitalismus die Macht geben oder der Menschlichkeit, indem wir jede Form des Gebens und Nehmens als eine spirituelle Übung verstehen. Dann entgehen wir den Fallen, die uns die raffinierte Warenwelt mit ihren verdinglichten Verlockungen an jeder Ecke aufgestellt hat.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen. 

26.06.2011

Regel 35: Das polare Denken, die Gegensätze und Widersprüche

In this world, it is not similarities or regularities that take us a step forward, but blunt opposites. And all the opposites in the universe are present within each and every one of us. Therefore the believer needs to meet the unbeliever residing within. And the unbeliever should get to know the silent faithful in him. Until the day one reaches the stage of being the perfect human being, faith is a gradual process and one that necessitates its seeming opposite: disbelief.

In dieser Welt sind es nicht die Ähnlichkeiten oder Regelmäßigkeiten, die uns einen Schritt weiter bringen, sondern die schroffen Gegensätze. Und all die Gegensätze im Universum sind in jedem einzelnen von uns enthalten. Deshalb muss der Gläubige den Ungläubigen treffen, der in ihm wohnt. Und der Ungläubige sollte den stillen Glaubenden in sich finden. Bis zu dem Tag, an dem jemand die Seinsstufe des vollkommenen Menschenwesens erreicht, ist der Glaube ein schrittweiser Prozess und einer, der sein scheinbares Gegenteil benötigt: Unglaube.

Die Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten sind die Charakteristika der Natur. Keine Blume gleicht der anderen, doch sind sie alle ähnlich. Kein Frühling ist wie der andere, doch kommt er jedes Jahr mit Verlässlichkeit. Es gibt in der Natur auch kein Entweder/Oder, sondern Veränderungen von einem Zustand in den nächsten. Graduell verändert sich das Wetter von Sonnenschein auf Gewitter, stufenlos gleitet der Tag in die Nacht über.
Die Gegensätze sind Charakteristika des menschlichen Denkens. Möglicherweise beruht dieses Denken auf der in Lebewesen tief verankerten Dualität von Kampf und Flucht im Fall einer Todesbedrohung. Blitzschnell muss zwischen zwei Möglichkeiten entschieden und alle Kraft in das Gewählte investiert werden. Das heißt, dass das Denken in Gegensätzen der Angst verpflichtet ist und von ihr gesteuert wird. 

Durch unser Denken jedenfalls haben wir die Möglichkeit, zu allem und jedem ein Gegenteil zu finden. Es genügt das Wort „nicht“ oder die Vorsilbe „un-„, um etwas in sein Gegenteil zu verkehren. Mit Hilfe dieses Schlüssels können wir im Denken alles her- und wieder wegdenken.  Er hilft uns auch, unser Denken zu radikalisieren und damit radikalen Handlungen Vorschub zu leisten, nach dem Motto: „Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Oder: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Vom Terrorregime der Jakobiner während der Französischen Revolution bis zur Achse des Bösen nach einem amerikanischen Kriegspräsidenten steckt hinter vielen Grausamkeiten und menschenverursachten Zerstörungen dieser einfache Operator unseres Denkens.
Auch und gerade in den Belangen des Glaubens und der Religion wurde und wird dieser Operator mit großem Eifer angewendet. Menschen glauben, in Sachen des Glaubens besonders radikal vorgehen zu müssen, weil es ja um die Grundbedingungen unserer Existenz geht. Vom Glauben hängt ab, ob mein Leben einen Sinn hat oder nicht, ob es mit dem Tod endet, ob es ein Jenseits gibt usw. Wenn jemand einen anderen Glauben vertritt, stellt das meinen Glauben in Frage, und eine einfache, oft praktizierte Möglichkeit, mit solchen Verunsicherungen umzugehen, besteht darin, dem Andersgläubigen den Schädel einzuschlagen und damit das Problem aus der Welt zu schaffen. 

Interessanterweise sind die meisten Religionsstifter und Weisen, also die Experten des Glaubens, friedliebende und freundliche Menschen, und Gewalt wird entweder rundwegs abgelehnt oder nur in Ausnahmefällen gestattet, bildet aber keinesfalls den Kernpunkt einer religiösen Lehre. Doch haben die Anhänger dieser Lehren unermesslich viel Blut vergossen, offensichtlich unter Missachtung der eigenen Grundsätze, die mit solchen Untaten verteidigt werden sollten. 

Die Mystiker, also die Experten der Spiritualität (darunter verstehe ich die zentralen Erkenntnisse der Religionen ohne ihr historisches, moralisches und soziales Beiwerk), zeigen den Weg, wie wir aus der Neigung, unsere Glaubensrichtungen mit Feuer und Schwert zu verbreiten und abzusichern, herauskommen. Wiederum geht es um die Innenschau. Wenn wir in uns hineinschauen und unser Denken beobachten, werden wir merken, dass sich da so viel in unserem Kopf abspielt, dass wir mit Fug und Recht alles mögliche über uns behaupten könnten – dass wir Atheisten und Gottgläubige, Materialisten und Spiritisten, Esoteriker und Pragmatiker sind und noch vieles, vieles mehr, wenn nicht überhaupt alles. Der friedlichste Mensch sollte in sich den Gewalttäter finden, wenn er lange genug sucht, der sparsamste den geizigsten, der wohlwollendste den missgünstigsten usw. Und wir brauchen uns vor all den Widersprüchen in uns nicht zu entsetzen, sondern können neidlos anerkennen, dass sich in unserem Kopf ein ganzes Universum befindet, genau das Universum, das wir mit allen anderen Köpfen teilen. Im Leben spielen wir nur diejenigen Teile aus, an die wir uns und unsere Umgebung gewöhnt haben, also jene Rollen, die uns leicht fallen. Wenn wir mal aus der Rolle fallen, fallen wir gleich auf. „Was, du kannst lustig sein?“ „Was, du kannst ernst sein?“

Es liegt also in unserer Natur als denkende Wesen, die wir gesteuert sind von mächtigen Gefühlsmustern, dass wir immer wieder, und besonders dann, wenn wir uns bedroht und geängstigt fühlen, Gegensätze konstruieren und zur Erklärung der Welt verwenden. Konstruktiv können wir dieses Design dazu nutzen, um unser Potenzial zu erweitern und unsere Innenwelt aufzuhellen. Wenn wir einen Schattenaspekt unserer Persönlichkeit, also einen Wesenszug, der uns wenig vertraut ist und den wir gerne bei anderen Menschen ablehnen und kritisieren, in uns selber gefunden haben, fällt eine Gefahr weg, die wir in diese Möglichkeit hineinprojiziert haben, wir sind ein Stück freier. Dann können wir auch anders in der Welt agieren und können überall um dieses Stück mehr einschließen statt auszugrenzen. Bis wir, im Zustand der Vollkommenheit, die ganze Welt mitumfassen, mit all ihren Gegensätzen und Widersprüchen, mit all ihrer Chaotik und Ordnung.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 13: Wahre und falsche Lehrer

There are more fake gurus and false teachers in this world than the numbers of stars in the visible universe. Don’t confuse power-driven self centred people with true mentors. A genuine spiritual master will not direct your attention to himself or herself and will not expect absolute obedience or utter admiration from you, but instead will help you to appreciate and admire your inner self. True mentors are as transparent as glass. They let the Light of God pass through them.

Es gibt mehr falsche Gurus und Lehrer in dieser Welt als die Zahl der Sterne, die im Universum sichtbar sind. Verwechsle nicht machtgetriebene selbstbezogene Leute mit wahren Mentoren. Ein wirklicher spiritueller Meister wird deine Aufmerksamkeit nicht auf sich ausrichten und wird von dir keinen absoluten Gehorsam oder äußerste Bewunderung erwarten. Statt dessen wird er oder sie dir helfen, dein inneres Selbst zu schätzen und zu bewundern. Echte Mentoren sind durchsichtig wie Glas. Sie lassen das Licht Gottes durch sie hindurchscheinen.



Wer auf der Suche fündig geworden ist, möchte diesen Fund teilen. Das ist Teil unserer menschlichen Natur. Selbst der Goldgräber, der seinen Nugget nach Jahren des Suchens ausgeschwemmt hat, muss seine Freude teilen, auch wenn er den Neid und die Gier seiner Kumpane fürchten sollte. Wir wollen Menschen daran teilhaben lassen, was uns selbst wertvoll ist. Sie sollen auch davon profitieren. Wir wollen lehren, was wir gelernt haben. Für jedes wertvolle Wissen gibt es Wissbegierige, die dieses Wissen für sich nutzen wollen.

Und dann kommen wir an eine Weggabelung, die wir allzu leicht übersehen. Lassen wir unseren Mitmenschen, die Vertrauen zu uns aufgebaut haben, die Freiheit, aus unseren Beschenkungen das auszuwählen, was ihnen wertvoll ist oder setzen wir sie unter Druck, noch mehr davon zu nehmen, als ihnen selber lieb ist? Mischt sich in unser Teilen unser Ego ein, das es besser wissen will, was für die andere gut ist? Sollen die anderen an genau meinem Wesen genesen, auf meine Art auf ihrem Weg weiterkommen? 

Vielleicht sind wir, ohne es zu merken, schon abgezweigt, und befinden uns auf der Straße der verblendeten Lehrer. Wir haben Schüler, die von unseren Lippen lesen und unsere Einsichten zitieren, ehrfürchtige Fragen stellen und unsere Anweisungen befolgen, stets Dankbarkeit zeigen und uns weiterempfehlen. Diese Erfolge blenden uns mit ihrem verführerischen Licht. Es ist nicht unser Licht, das wir da vermeintlich über unsere Schüler ausbreiten. Es ist ihr Licht, das aus dem ehrlichen Wunsch nach Wahrheit, Erkenntnis und Liebe strahlt, das wir uns zu Eigen machen und ihnen wieder zurückgeben. Wir selbst sind dann schon am Weg zur pädagogischen und spirituellen Ausbeutung. 

Der nächste Schritt der Verblendung zeigt sich, wie wir mit Kritik und Beschwerden umgehen: „Wenn du mit etwas nicht zurecht kommst, was ich dir sage, zeigt das, dass du an dir selber etwas nicht akzeptieren kannst. Schau dir das an, dann wird deine Kritik verstummen.“ „Du hast dir das so ausgesucht, das war deine eigene unbewusste Wahl, sei froh, dass dir jetzt die Einsicht darüber gezeigt wird.“ Wir spiegeln also jedes Feedback zurück zum Schüler und sind damit immer selber aus dem Schneider. Der Schüler mag daraus für sich lernen, was sein innerer Anteil an der Kritik war, er sollte aber auch lernen, dass sein Lehrer in diesem Punkt nicht transparent, sondern überschattet ist.

Jede Lehrerin hat Schatten, als Teil ihrer Menschlichkeit. Es ist nicht notwendig, dass die Lehrerin ihre Schatten vor den Schülerinnen ausbreitet, denn damit stellt sie sich selber in den Mittelpunkt und die Schülerinnen an den Rand; es ist aber auch schädlich, wenn sie sich als vollkommen präsentiert, denn damit nimmt sie sich erst recht selber für wichtiger als die Schülerinnen. Solange sie selber um ihre Schatten weiß und sich um deren Aufhellung kümmert, ist sie eine gute Lehrerin. Solange sie die Schatten aus ihrer Arbeit mit den Schülern heraushalten kann, solange sie also nicht das Licht trüben, das sie durch sich hindurch strahlen lässt, ist sie auf dem richtigen Weg. Die Lehrerin sollte sich immer wieder vergewissern, dass sie selber immer Schülerin bleiben wird, Schülerin der größeren Weisheit, der sie alles schuldet, was sie lehren kann. Und dass sich diese größere Weisheit immer auch durch die Schülerinnen offenbart, gerade dort, wo sie mit unangenehmen Fragen oder Kommentaren kommen. Die Lehrerin sollte sich immer bewusst sein, dass Lehren Gnade und Verantwortung ist. Gute Lehrerinnen kann man auch daran erkennen, ob sie humorvoll mit anderen und vor allem auch mit sich selbst umgehen können.

Wie Lebensabschnittspartnerschaften gibt es auch Lebensabschnittlehrer, also Lehrer, die für eine Phase des Lebens wichtig sind. Der richtige Lehrer in einer Lebensperiode kann zum Falschen werden, wenn die Etappe des Weges vorbei ist, auf der der Lehrer den Schüler begleiten konnte. Problematisch ist es auch, wenn die Beziehung dort weitergeht, wo der Lehrer bereits überfordert ist und nicht mehr wirklich begleiten kann. Es läge am Lehrer zu erkennen, wann er den Schüler entlassen und weiterschicken sollte. Doch die Verblendung, ein vollkommener Lehrer zu sein, kann ihn ab davon abhalten. In diesem Fall wird es mühsam für den Schüler, den Weg selber zu finden, manchmal wird es auch schmerzhaft und konfliktbeladen, vor allem, wenn aus einer freien schon vorher eine abhängige Lehrer-Schüler-Beziehung geworden war.

Der Anspruch an einen Lehrer, ganz transparent zu sein, ist hoch, und es sind immer Menschen, an die er ergeht. Wenn wir nach dem vollkommen transparenten Lehrer suchen, kann es sein, dass wir nie fündig werden. Deshalb ist es besser, nachzuspüren, was uns der Lehrer, zu dem es uns hinzieht, geben kann, und wo die Grenzen sind. Wir brauchen nicht den perfekten Lehrer, sondern den, der uns dort weiterhelfen kann, wo wir Hilfe brauchen, bis wir selbständig geworden sind. Der gute Lehrer macht sich selbst überflüssig, damit der Schüler selber Lehrer werden kann.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 34: Unterordnung und Hingabe


Submission does not mean being weak or passive. It leads to neither fatalism nor capitulation. Just the opposite. True power resides in submission – a power that comes from within. Those who submit to the divine essence of life will live in unperturbed tranquility and peace even when the whole wide world goes through turbulence after turbulence.

Unterordnung heißt nicht, schwach oder passiv zu sein. Sie führt weder zu Fatalismus noch zur Kapitulation. Ganz im Gegenteil. Wirkliche Macht ruht in der Unterordnung – eine Macht, die von innen kommt. Diejenigen, die sich der göttlichen Essenz des Lebens unterordnen, werden in unbeirrter  Beschaulichkeit und ungestörtem Frieden leben, auch wenn die ganze weite Welt eine Turbulenz nach der anderen durchmacht.

Unterordnung klingt fast wie eine Beleidigung und Demütigung für den aufgeklärten Geist. Er opponiert sofort und sagt: Niemals werde ich mich irgendjemandem unterwerfen. Niemals werde ich eine Macht über mir anerkennen. Immanuel Kant hat der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen,“ an die Fahnen geheftet. Und weiter: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. ... Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.” 

Wer sich seines Verstandes bedient, braucht niemanden über sich, er ist frei. Er entwirft seine eigenen Grundsätze und Werte und folgt ihnen. Er tut nur, was ihnen entspricht und kämpft gegen alles, was ihnen entgegensteht. Dazu ist Mut erforderlich, denn eine Autorität, der man sich anvertraut, gibt auch Sicherheit und Schutz. Der moderne Mensch des personalistischen Bewusstseins ist auf sich gestellt und für sich selbst verantwortlich. In der Abenddämmerung, nachdem die Welt in Ordnung gebracht wurde, reitet er der untergehenden Sonne entgegen. (Oder setzt sich vor die Tastatur und schreibt seine Blogs).

Soweit das Idealbild des unabhängigen Menschen, der sich von den Fesseln mittelalterlicher Denkweisen und Sozialformen befreit hat. Die Realität schaut in vielen Bereichen anders aus, dauernd müssen wir uns mit anderen abstimmen, da und dort Abstriche machen und Kompromisse eingehen. In der Welt, die an Komplexität immer mehr zunimmt, werden die wechselseitigen Abhängigkeiten immer komplexer und schwerer durchschaubar.

Im Getriebe der unterschiedlichsten sozialen Netzwerke wird schließlich auch fraglich, was denn dieser eigenwillige Verstand, dessen wir uns bedienen sollen, eigentlich noch sein kann. Ist er mehr als ein Denkprozessor, der eingespeiste Informationen filtert und daraus andauernd sich verändernde Konstruktionen über sich selbst und über die Welt produziert? Gibt es einen archimedischen Punkt hinter all diesen Produktionen, der sie zusammenhält, also ein „Ich denke, also bin ich“? Ist dieses Ich, der Angelpunkt des modernen Menschen, nach all den Katastrophen und Umwälzungen, die zur Postmoderne führten, überhaupt noch eine relevante Größe oder doch nur ein mühsam zusammengezimmertes Konstrukt? Klammern wir uns verzweifelt an unserem Ich an wie die mittelalterlichen Menschen an die Segenskraft eines Splitters aus dem Kreuz Christi?

Unser Bewusstsein ist aus den unterschiedlichsten Schichten zusammengebaut. Keine kann die Priorität über den anderen behaupten. Doch schreiten wir fort in unserer Erforschung, wenn wir eine Zusammenschau wagen und anerkennen, dass uns manchmal die älteste Ebene der Menschheit umtreibt und ein anderes Mal die noch kaum fassbare Welt des universalistischen Bewusstseins. Manchmal bedienen wir uns unseres Verstandes mit mehr oder weniger Erfolg, manchmal bewegen wir uns ohne Ich in der Welt, manchmal funktionieren wir in Unterordnung unter Systeme, die wir nicht beeinflussen können oder wollen.  Wachsen in Bewusstheit heißt dann, wahrzunehmen, auf welcher Bewusstseinsebene wir uns gerade befinden. Dann wird uns auch deutlicher, welche Wahrnehmungs- und Handlungsalternativen uns zur Verfügung stehen, wenn wir das Gefühl haben, nicht zu wissen, wie es weiter gehen soll.

Die Meister der Weisheit machen uns mit der Welt des weitesten und freiesten Bewusstseins, das Menschen möglich ist, bekannt und zeigen uns auf, wie wir dorthin gelangen können. So müssen wir auf diesem Weg auch unser Konzept von Unterordnung revidieren.  Wir lassen die hierarchischen Prägungen von Über- und Unterordnung hinter uns und machen uns von ihren Implikationen frei. Wir weiten den Blick über die menschlichen Versuche hinaus, eine taugliche soziale Ordnung zu errichten, und gelangen zur Lebenskraft, die hinter, unter und in all diesen Versuchen wirksam ist. Sie ist mächtiger als unsere individuellen und kollektiven Bemühungen und sie übersteigt das Fassungsvermögen unseres Verstandes. 

Wir können erklären, so viel wir erklären können, und sollen auch alles, was noch nicht erklärt wurde, erklärbar machen. Dazu nutzen wir unseren Verstand. Und wir können seine Grenzen anerkennen. Es gibt Bereiche unseres Bewusstseins, die nicht erklärbar sind und keine Erklärung brauchen, weil sie, obwohl sie unmittelbar einleuchtend sind, nicht in Worte gefasst werden können. 

Dazu gehört der Bereich, in den wir eintreten, wenn wir uns mit dem inneren Frieden verbinden. Es gibt diesen Ort, den wir z.B. am Ende eines tief entspannten Ausatems, versunken in einem Musikstück oder in der Betrachtung der Natur finden können. Dort herrscht Friede und Gleichmut jenseits des Chaos unserer Lebenswelten. Dann sind wir selber mit unserem Wollen und Nichtwollen, unserer Bedürftigkeit und Ängstlichkeit, nicht mehr wichtig. Dann sind wir ganz dem Größeren hingegeben, das uns trägt und für uns sorgt. Dann geben wir dem die Ehre, das uns leben lässt, von Moment zu Moment.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Regel 33: Die Leere

While everyone in this world strives to get somewhere and become someone, only to leave it all behind after death, you aim for the supreme stage of nothingness. Live this life as light and empty as the number zero. We are no different from a pot. It is not the decorations outside but the emptiness inside that holds us straight. Just like that, it is not what we aspire to achieve but the consciousness of nothingness that keeps us going.

Während jeder in dieser Welt danach strebt, irgendwohin zu gelangen und irgendwer zu werden, um nach dem Tod alles hinter sich zu lassen, setze dir die erhabene Stufe des Nichts als Ziel. Lebe dieses Leben so leicht und leer wie die Nummer Null. Wir sind nicht anders als ein Topf. Es sind nicht die Dekorationen außen, sondern die Leere innen, die uns gerade hält. Einfach so: Was uns am Leben hält, ist nicht, was wir zu vollbringen trachten, sondern das Bewusstsein des Nichts.

Das Nichts und die Leere sind rätselhafte Begriffe, mit denen wir uns im Alltagsleben schwer tun. Alles erscheint uns angefüllt mit Gegenständen, und selbst wenn wir nach oben schauen, ist dort auch etwas, der Himmel. Wie sollen wir auch ein Nichts sehen oder hören, was sollen wir mit einem Nichts anfangen?

Nur wenn wir zu „spekulieren“ beginnen, ändert sich etwas: Wenn wir die Erdatmosphäre verlassen und uns in den Weltraum hinaus bewegen, gibt es nur Leere bis zum nächsten Planeten. Die Physiker erzählen uns, dass die Atome vor allem aus leerem Raum bestehen. Das kann uns schummrige Gefühle bereiten – wie wir da auf unserem vergleichsweise winzigen Planeten durch den leeren Raum sausen, weit und breit sonst nichts und wieder nichts? Oder wie die einfachsten Dinge zusammenhalten sollen, wenn sie so viel Leere enthalten, einschließlich unserer selbst? 

Doch das sind Fragen, die uns nur auf eine Spur führen, ohne dass uns deren Beantwortung auf dem spirituellen Weg weiterhelfen würde. Die Spur liegt in der Verunsicherung und Irritation, die solche Spekulationen auslösen können. Sie unterbrechen die Zyklen der Geschäftigkeit und Aktivität, die unsere Tage füllen, sodass keine Leere vorkommen kann. Sie zeigen uns, dass die uns selbstverständliche Welt nur ein winziger Ausschnitt aus dem ist, was es gibt. Und auch, dass das, was uns selbstverständlich erscheint, nur aus Informationen zusammengesetzt ist, die uns unsere Sinnesorgane liefern.

Wenn wir der Spur folgen, lässt sie uns jenseits unserer Alltagswelt suchen. Wie ist die Welt hinter der Welt unserer Erscheinungen? Wenn hier die Welt voller Dinge ist, könnte es sein, dass die Welt dahinter leer ist?

Die erste Form, in der uns die Leere innerlich begegnet, ist die Langeweile. Sie entsteht häufig, wenn wir aus dem Getriebe des Alltags aussteigen und keine Anforderung auf uns wartet oder keine passende Unterhaltung bereit steht. Auch der Mangel an kreativen Impulsen als Folge von Auszehrung und Erschöpfung durch den Druck des Erwerbslebens kann hinter der Langeweile stecken. 

Wir leiden an der Länge der Zeit, die sich vor uns ausdehnt und verzweifelt nach einer Überbrückung sucht – dorthin, wo wieder Land in Sicht ist. Jetzt gerade „weiß ich nichts mit meiner Zeit anzufangen“, und irgendwann kommt jemand, der mich aus dieser Leere erlösen wird, oder irgendwann wird es ein Ereignis geben, das mich die Leere vergessen lässt, indem es mir Stoff anbietet, der die Leere vertreibt. Wir leben davon, dass uns das Außen mit Inhalten, Aufgaben, Anregungen, Überraschungen anfüllt. 

Wenn nur unser Inneres da ist, wenn wir z.B. die Augen schließen und das Hören und Fühlen nach innen richten, dann finden wir zunächst da auch wieder nur Inhalte von Außen, Gedanken von und über Inhalte der Welt, die durch den Kopf schwirren, von einem Ende zum anderen. Wenn wir uns davon nicht beirren lassen und darauf warten, dass sich der Denksturm legt, wird Stille spürbar, Leere zwischen den Gedanken. Dieses Nichts zeigt sich ohne unser Zutun, und wir erleben es als angenehm und wohltuend. Es will nichts von uns, braucht nichts von uns. Es zeigt uns, dass wir da sind, und da sein können, ohne anders zu sein, als wir sind. Alles ist richtig so, alles ist gut so. Welch eine Erleichterung, welch eine Befreiung darf sich da ausbreiten. Das ist die Lebenskraft, die wir nur in der Leere, in den Zwischenräumen, in der Stille finden können. Sie ist rein, weil sie keinen Inhalten oder Programmen verpflichtet ist, sondern weil sie nur dem Weiterfließen des Lebensstroms dient.

Je leerer wir in unserem Inneren werden, desto einfacher wird unser Leben. Sorgen über etwas, was noch gar nicht eingetreten ist, fallen weg, Belastungen aus der Vergangenheit, die schon überstanden sind, verschwinden, Dinge, die zu tun sind, werden ohne Aufhebens getan, und die Zeiten dazwischen bleiben frei für das Nichts.

Was zu tun ist, wird immer weniger wichtig, weil es um das Tun selbst geht und nicht um das, was damit bewirkt werden soll. Das Eintauchen in das Nichts lehrt uns, dass die Erfolge, nach denen wir dauernd streben, nur Verschönerungen unseres Lebens sind, die nichts mit seiner Essenz zu tun haben. Ebenso sind unsere Misserfolge und Enttäuschungen unwesentlich, sie bilden die weniger gut gelungenen Dekorationen. Bedeutsam sind diejenigen Erfahrungen, die wir mit unserem vollen und klaren Bewusstsein begleiten, und solche Erfahrungen tragen kein Etikett. Sie sind flüchtig und hinterlassen keine Spur; damit machen sie Platz für die nächste Erfahrung. 

Vielleicht gilt das für unsere Existenz genau so – wir können uns als flüchtige Erscheinungen auf diesem Planeten verstehen, die irgendwann in der Leere verschwinden, dann finden sich neue Erscheinungen ein als Platzhalter, bis auch sie wieder in die Leere eingehen, um Platz zu machen...

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.