14.06.2011

Regel 25: Himmel und Hölle

Hell is the here and now. So is heaven. Quit worrying about hell or dreaming about heaven, as they are both present in this very moment. Every time we fall in Love, we ascend to heaven. Every time we hate, envy or fight someone, we tumble straight into the fires of hell. Is there a worse hell than the torment a man suffers when he knows deep down in his conscience that he has done something awfully wrong? Ask that man. He will tell you what hell is. Is there a better paradise than the bliss that descends upon a man at those rare moments in life, when the bolts of the universe fly open and he feels in possession of all the secrets of eternity and united with God? Ask that man. He will tell you what heaven is.

Die Hölle ist das Hier und Jetzt. So auch der Himmel. Hör auf mit den Sorgen über die Hölle oder mit den Träumen über den Himmel, weil sie beide präsent sind in genau diesem Moment. Wann immer wir in die Liebe fallen, steigen wir zum Himmel auf. Wann immer wir hassen, jemanden beneiden oder bekämpfen, taumeln wir geradewegs in die Feuer der Hölle. Gibt es eine schlimmere Hölle als die Qualen, die ein Mensch erleidet, wenn er tief drinnen in seinem Gewissen weiß, dass er etwas grässlich Falsches getan hat? Frage diesen Menschen. Er wird dir sagen, was die Hölle ist. Gibt es ein besseres Paradies als die Glückseligkeit, die auf einen Menschen herabsteigt, in diesen seltenen Momenten des Lebens, wenn die Tore des Universums auffliegen und er fühlt, dass er alle Geheimnisse der Ewigkeit besitzt und sich eins mit Gott fühlt? Frage diesen Menschen. Er wird dir sagen, was Himmel ist.


Alles Erleben ist im gegenwärtigen Moment. Himmel und Hölle sind Metaphern für das Erleben von entgegengesetzten Zuständen im Moment. Subjektiv gibt uns das Gefühl den Maßstab – geht es uns gut oder leiden wir. Ein arges Leiden können wir als Hölle bezeichnen, eine tolle Hochstimmung als himmlisch. Dazwischen kennen wir viele Abstufungen und Varianten unserer Befindlichkeit.

Das Zitat bezieht sich vor allem auf die moralische Ebene: „Wie im Himmel“ sind wir, wenn wir uns liebevoll auf andere beziehen (wie z.B. wenn wir in einem Chor singen), und in der Hölle, wenn wir uns von ihnen abtrennen. Dazu passt die alte Geschichte, in der berichtet wird, dass es keinen Unterschied zwischen Himmel und Hölle gibt. In beiden sitzen sich die Menschen gegenüber, der Tisch ist gefüllt mit Speisen, doch haben alle nur Essstäbchen, die zu lange sind, um sich selbst zu füttern. In der Hölle versuchen alle verzweifelt, die Speisen zum Mund zu bringen und scheitern dauernd fluchend; im Himmel bedienen sie sich gegenseitig und alle sind glücklich. Die Hölle ist die Selbstbezogenheit, der Himmel das liebevolle Dasein für die anderen, so sagt dieses Gleichnis.

Lange Zeit wurde die Menschheit mit Hilfe des Glaubens an physische Orte des Himmels und der Hölle in Bann gehalten. Der Himmel ist irgendwo im Blau der Atmosphäre, und dort wollen wir alle hin; die Hölle ist irgendwo unten, und die müssen wir unbedingt vermeiden. Diese Ortsangaben dienten als Instrumente der sozialen Kontrolle und der hierarchischen Machtausübung, der sich die Menschen unterzuordnen hatten. Die Angst vor höllischen Strafen und die Hoffnung auf himmlische Freuden hat das Verhalten der Menschen gesteuert. Zuerst wurden diese Bilder den Menschen durch Predigten und Altartafeln eingetrichtert. Zunehmend haben dann die Religionen darauf geachtet, dass sich die Verhaltenssteuerung mittels des Gewissens ins Innere verlagert. Bei jeder Handlung sollte darauf geachtet werden, ob sie auf das himmlische oder das höllische Konto gebucht wird.

Das hierarchische Gefüge dieser Sozialordnung sicherte sich selbst mittels Himmel und Hölle nach unten und nach oben ab – oben war die Herrlichkeit, die der Herrschaft ihre Rechtfertigung gab, unten wartete das Schrecklichste, das die endgültige Bestrafung für alle bereithielt, die sich nicht an die strengen Spielregeln halten wollten. So galt es sich einzupassen in die engen Rollen, die vorgegeben waren, das Risiko des Absturzes lauerte überall, während die Hoffnung auf den Aufstieg ans Lebensende verschoben blieb.

Schon das materialistische Bewusstsein hat diesen sozialen Steuerungsmechanismen den Rücken gekehrt und sie subtil und zynisch mit seiner Orientierung auf das Glück auf Erden durch die Anhäufung von Gütern untergraben. Schau darauf, dein irdisches Leben maximal zu genießen und scher dich nicht um die anderen.

Dann kam die Aufklärung im Zeichen des personalistischen Bewusstseins. Sie verkündete das Ende der Märchen von Orten der Qualen, die irgendwo im unterirdischen Bereich schlummern sollten. Die Erde enthält zwar feurige Lava, aber keine Teufel, die sich dort wohlfühlen. Und der Himmel wurde von den Fernrohren der Astronomen durchkämmt, ohne dass dort paradiesische Landschaften entdeckt worden wären.

So verlagerte sich die Sicht in das erlebende Subjekt, in die Person, die ihr Gefühlsleben ernst und wichtig nimmt und dessen Dynamik erfährt. Gute Phasen wechseln mit schlechten Phasen, ein unstetes Leben in Abhängigkeit von Stimmungen. Das personalistische Bewusstsein sucht den Himmel in sich selbst, doch alle Glücksversprechen sind nur temporäre Trostpflaster. Erst müssen die Tiefen und Untiefen des Seelenlebens erforscht und ausgelotet werden. Da gerät das Suchen leicht auch einmal in die Hölle. Dann, irgendwann, wird klar, dass das eigene Innere nie die letzte Gewissheit über die Bestimmung des Menschen bringen kann.

Das Bewusstsein wächst weiter und öffnet sich auf der systemischen Ebene für die Beziehungen zu anderen. Diese werden bedeutsamer als die eigene Sinnsuche. Wie kann ich zufrieden sein, wenn die Welt im Argen liegt? Wie kann ich meine Steaks genießen, wenn ich weiß, dass dafür im Amazonasgebiet die Regenwälder gerodet wurden? Wie kann ich ein billiges T-Shirt kaufen, wenn ich damit rechnen muss, dass es von Kindern genäht wurde? Viele Fragen schrecken uns aus unserer Selbstgewissheit und Selbstbezogenheit.

Wenn wir uns der holistischen Bewusstseinsstufe nähern, erkennen wir, dass der Himmel doch in uns zu finden ist, jedoch nicht im persönlichen Inneren, sondern in einem, das nicht uns gehört, sondern das von einer Liebeskraft gespeist wird, die größer ist als wir selbst. Dann fällt es uns auch zunehmend leichter, all unser Tun in den Dienst dieser Liebeskraft zu stellen und damit die Bereiche in unserem Leben auszuweiten, in denen der Himmel durchscheint.


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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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