09.07.2011

Regel 37: Eine Zeit zum Lieben, eine Zeit zum Sterben

God is a meticulous clockmaker. So precise is His order that everything on earth happens in its own time. Neither a minute late nor a minute early. And for everyone without exception the clock works accurately. For each there is a time to love and a time to die.

Gott ist ein akkurater Uhrmacher. So präzise sind seine Anordnungen, dass alles auf der Erde in seiner eigenen Zeit geschieht, weder eine Minute zu spät noch eine Minute zu früh. Und für jeden ohne Ausnahme funktioniert die Uhr genau. Für jeden gibt es eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu sterben.


Der Gott als Uhrmacher ist ein Bild, das die Deisten im 18. Jahrhundert geprägt haben. Im Sinne des zu dieser Zeit in den Bildungsschichten vorherrschenden materialistischen Paradigmas besagte es, dass Gott am Anfang die Schöpfung eingerichtet habe mit einem genauen Programm wie ein Uhrwerk, Symbol höchster feinmechanischer Handwerkskunst, und das Programm laufe so ab wie vorgesehen, bis die Federn müde und die Zahnräder schadhaft werden, also bis ans Ende der Tage dieser Erde. Diese Annahme besagte, dass Gott sich nicht weiter um die Welt kümmere und sie ihrem Lauf überlasse, sodass es keinen Sinn mache, sich bei ihm über mangelnde Zuwendung und Fürsorge zu beklagen.

Um das Zitat zu verstehen, sollten wir uns gerade von diesem mechanistischen Bild verabschieden. Es geht hier vielmehr um die Idee der Vorherbestimmung all dessen, was passiert, so, als ob es gemäß einem Uhrwerk abliefe. Wenn jetzt die Milch überkocht oder der Bus Verspätung hat, ist es so bestimmt und kann nicht anders sein. Natürlich könnte es – der Möglichkeit nach –anders sein, aber die Wirklichkeit gibt es in jedem Moment nur einmal, in einer einzigen und einzigartigen Version. Deshalb macht es keinen Sinn, daran herumzumäkeln und sie anders zu wollen, als sie ist. Ich kann den Topf von der Herdplatte nehmen und die verkochte Milch aufwischen, ich kann aber nicht die Milch in den ungekochten Zustand zurückversetzen, ich kann ein anderes Verkehrsmittel nehmen oder zu Fuß gehen, aber nicht die verlorene Zeit zurückholen.

Aus dieser Idee können wir eine große Gelassenheit gewinnen, dass wir alles so annehmen, wie es ist, ob es nun in unsere eigenen Pläne und Vorstellungen passt oder nicht, ob es uns angenehm ist oder nicht. Wir brauchen nicht mit dem zu hadern, was geschieht, weil es ohnehin so geschieht, wie es geschieht. Unser Hadern ändert daran nichts, außer dass wir uns ein zusätzliches Problem schaffen – das eigentliche Problem und das Hadern darüber. Natürlich ist das Hadern auch Teil des Uhrwerks, und ebenso, dass irgendwann von irgendwoher die Idee kommt, dass genug gehadert wurde und es ohne Hadern auch gehen könnte und damit das Leben leichter wird.

Wenn wir uns auf diese Idee einlassen, akzeptieren wir eine höhere Intelligenz „über“ uns, die uns weit überlegen ist und unendlich mehr weiß und erkennt als wir selber jemals begreifen könnten. Das ist die Idee Gottes im Vergleich zu uns selbst, die jenseits all dessen, was uns noch begreiflich ist, angesiedelt ist. Wir anerkennen mit dieser Idee die Beschränktheit unserer Modelle und Erklärungsversuche und müssen weiter nicht mehr quälerisch nach allem suchen, was der Grund unserer Belastungen und Beschwernisse sein könnte. Erklärungen sind dann nur mehr Erklärungsversuche, die wir machen, weil wir gerade Lust dazu haben, ohne dass wir dadurch eine Problemlösung erwarten. Probleme lösen sich in dem Maß und in der Richtung, die dafür vorgesehen ist, ob mit oder ohne unser Zutun.

Solcherart entlastet und befreit von der Selbstquälerei bleibt uns Zeit und Energie für anderes, z.B. für das Lieben. Eine Zeit zum Lieben gibt es immer, jeder Moment wartet darauf, dass wir es „tun“. Nicht immer können wir uns mit dem Moment und seiner Erwartung verbinden, häufig sind wir verstrickt in den Wirrnissen des Denkens und Fühlens, voll und ganz beansprucht von unserer hungrigen Selbstbezogenheit.

Seit jeher sollte die Besinnung auf die höhere Weisheit, die hinter allen Vorgängen steckt, uns aus dieser Verhexung befreien und den Blick darauf lenken, dass wir uns nicht vordringlich und fortwährend um uns selber und um unser Wohlbefinden kümmern müssen, da wir ja behütet und getragen sind. Dann öffnet sich unser Blick von selbst nach außen, zu denen, die um uns sind. Dann ist unser Blick nicht darauf fixiert, was sie uns wegnehmen oder antun könnten oder worin sie uns bedrohen, sondern darauf, was Gott in sie gelegt hat als Schätze und Kostbarkeiten und was darauf wartet, von uns entdeckt zu werden.

Die Zeit zum Sterben bereitet uns nur dann Kummer, wenn wir aus der Zeit des Liebens gefallen sind. In diesen Fällen kann es sein, dass uns bewusst wird, dass wir eines Tages dieses Leben beenden, wie wir soeben dieses Leben, das im Lieben besteht, beendet haben (meist ohne zu wissen, warum und wie, ja sogar dass es passiert ist). Sofort macht uns der Gedanke an das Sterben Angst, weil noch so vieles offen ist. Wir denken dann, was alles noch zu tun wäre, und dass lange nicht alles erledigt ist. Die Liebe ist langmütig und braucht keine Betriebsamkeit, sie führt in den Moment, und dieser ist immer in sich vollkommen.

Weshalb ist uns der Tod ein derartiges Problem? Philosophen haben den Menschen als „Sein zum Tode“ definiert, als ein Wesen, dessen ganz Tragik durch das Wissen um sein Ende gekennzeichnet ist. Warum können wir nicht einfach gehen, in jedem Moment, aus dieser Form der Existenz ins Unbekannte?

Sicher will niemand die Schmerzen, die häufig mit dem Sterben verbunden sind, aber Schmerzen gehören ja zum Leben, und solange Schmerzen anhalten, leben wir noch. Und sicher haben wir Angst vor dem Unbekannten, dem Namenlosen, das auf das Sterben folgt. Wohin geht dann die Reise? Vor ein himmlisches Gericht, in diverse Bardoräume, über einen Fluss oder einfach ins Nichts?

Das Typische an der Grenze des Todes ist, dass wir nicht wissen können, was sich dahinter zeigt. Wissen ist immer an eine sinnliche Erfahrung verbunden, die in einem lebendigen Gehirn verarbeitet wird. Der Tod ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Sinnesorgane und das Gehirn aufgehört haben, zu funktionieren und damit alle Informationen, die dort gewonnen und weiterentwickelt werden, gelöscht und verschwunden sind. Es gibt also auch nichts mehr, das Angst empfinden könnte – aus den Berichten von Nahtoderfahrungen wissen wir, dass es hinter der ersten Schwelle auf dem Weg zum Tod keine Angst mehr gibt. Wenn wir keine Angst empfinden können, wird uns dann nur mehr Licht und Glück durchfluten? Die Nahtoderfahrenen sind oft, nicht immer, aus solchen Zuständen zurückgekommen, deshalb können sie auch nicht berichten, was nachher passiert, nachdem auch die zu diesen Erfahrungen gehörigen Funktionskreise zusammengebrochen sind.

Wenn wir Abschied nehmen, nehmen wir auch Abschied von unseren Liebsten. Die Menschen, mit denen wir am meisten in unserem Leben geteilt haben, müssen wir zurück lassen. Wir haben viel gegeben, wir haben viel empfangen. Wenn wir uns bewusst mit dem Tod konfrontieren, erkennen wir, dass ein Zyklus abgeschlossen ist. Es gilt jetzt, dass wir weitergehen und dass auch unsere Liebsten weitergehen. Die Liebe, die uns verbindet, verändert ihre Form, nicht ihren inneren Gehalt.

Wenn wir in der Liebe sind, sind wir mit dem Leben und seiner Kraft der Weiterentwicklung verbunden. Dann kann uns kein Gedanke an das Sterben Schrecken einflößen. Sicher leben wir gerne, aber ist es so wichtig, dass gerade wir selber für immer weiterleben? Neues Leben entsteht fortwährend und andauernd, altes Leben tritt ab. Ein großer Zusammenhang umgibt all diese Vorgänge und webt sie ein in einen riesigen Teppich aus Geschichten. Und jede Geschichte hat einen Anfang und braucht ein Ende. Erst wenn die eine Geschichte beendet ist, kann die nächste beginnen. Alle diese Geschichten sind Lebensgeschichten, und Lebensgeschichten sind immer auch Liebesgeschichten, also beendet unser Sterben eine Liebesgeschichte und eine neue beginnt, und neue Protagonisten spielen darin ihre Rolle. Wir haben unseren bescheidenen Knoten zu diesem Netz beigesteuert, mehr war nicht zu tun, und auch nicht weniger.

Wohl geziemt es sich, dass wir dem Tod Respekt entgegen bringen, er ist eine starke Macht, wir können ihm aber auch mit Vertrauen begegnen, wie einem Führer, der uns in ein unbekanntes Land geleitet, mit viel Erfahrung und Sicherheit, wie einem Freund, der uns einen, den letzten Dienst erweist. Genauso bringt er uns Respekt entgegen, dass er uns erst dann zur Verfügung steht, wenn die Zeit gekommen ist, die uns zugemessen ist. Wir können und sollen darauf vertrauen, dass die Zeit, die uns zum Lieben überlassen wird, das genau richtig Maß hat, und dass der Tod dann auf uns wartet, wenn unsere Uhr abläuft. In diesem großen Bogen des Vertrauens, das auch noch den Tod einschließt, kommen sie zusammen: Die Zeit des Liebens und die Zeit des Sterbens.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com. 
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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