13.07.2011

Regel 39: Das Ganze bleibt immer das Gleiche

While the parts change, the whole always remains the same. For every thief who departs the world, a new one is born. And every decent person who passes away is replaced by a new one. In this way not only does nothing remain the same but also nothing ever really changes.

Während sich die Teile ändern, bleibt das Ganze immer das Gleiche. Für jeden Dieb, der aus der Welt scheidet, wird ein neuer geboren. Und jede rechtschaffene Person, die stirbt, wird durch eine neue ersetzt. Auf diese Weise bleibt nicht nur nichts das Gleiche, sondern verändert sich auch niemals wirklich etwas.

Die Mystik liebt das Paradoxe, weil es die Konzepte des Denkens durcheinander bringt. Die Ordnung, die das Denken in die Welt bringen will, dient nur seiner eigenen Absicherung und Stabilisierung. Das Denken mit den Mitteln des Denkens auszuhebeln, ist das Wirksame vieler spiritueller Lehren. Das Denken ist es, das Gegensätze schafft, und mit den Mitteln des Denkens können diese Gegensätze wieder überwunden oder entmachtet werden. Eine Gelegenheit, innezuhalten und in die Stille und die Weite einzutauchen …
In der vorigen Regel war noch von der bedingungslosen Bereitschaft zur Veränderung die Rede. Weshalb sollte es Sinn machen, dass das Ganze immer gleich bleibt, während wir selber uns dauernd verändern sollten, bzw. uns bewusst machen sollten, dass wir uns ununterbrochen verändern?
Der Aspekt der Veränderung sorgt für die Unterscheidungen. Das Leben entfaltet sich vom einen zum anderen, schafft permanent Neues und bereichert das Universum. Doch wirkt jede Unterscheidung in einer Verbundenheit. Alles Neue ist verbunden mit allem, was schon da ist, oder, anders gesagt, im neuen Moment ist alles neu. Die Veränderung besteht nur darin, dass die Zeit fortschreitet und immer wieder neue Momente hervorbringt. Ein Moment unterscheidet sich vom nächsten. Doch wieder greift unser Denken zu kurz – die Zeit ist nicht ein Stakkato von aneinander gereihten Zeitpunkten, sondern etwas Fließendes, das sich im Gleichbleiben unterscheidet. Es gibt also diese Momente in Wirklichkeit gar nicht, von denen da die Rede war. Sie dienen nur dazu, unserem Bewusstsein einen Anker zu geben, um es aus der Verwirrung des Denkens zu befreien. Der Anker fällt jedoch bei genauerem Besehen ins Leere. Es gibt keinen Gegenhalt im Fluss des Lebens. Und wir brauchen ihn nur so lange, als wir in der Schwerfälligkeit unseres Denkens festhängen, um uns aus dieser Plumpheit herauszuhieven. Sobald wir mit der Leichtigkeit des Fließens verbunden sind, benötigen wir keine Konzepte und Erklärungen mehr.
Das Ganze ist unsere Heimat. Die Veränderung ist unsere Reise. Sie führt uns durch viele Gebiete, solche, in denen wir uns zuhause fühlen können, und andere, die uns fremd sind und bleiben. Alle diese Orte und Zeiten gehören zum Ganzen, und das Leben führt uns dorthin, damit wir es noch besser kennen lernen. Allmählich, auf unseren Reisen in den äußeren und inneren Welten, dämmert uns, dass in allen Orten und Zeiten das Gleiche steckt, dass sie nur Variationen des einen großen Themas sind. Es wird von den Mystikern oft in Bildern ausgedrückt, wie der Tropfen im Ozean oder das Sandkorn am Strand. Wir sind die winzigen Partikel und wir sind das große Ganze, Wir sind unendlich wichtig und unendlich unwichtig. Alles, was wir für uns selber, in unserem kleinen Ich, für wichtig nehmen, ist in der größeren Wirklichkeit unwichtig, alles, was wir jetzt gar nicht zur Kenntnis nehmen, ist in der größeren Wirklichkeit das eigentlich Wichtige.
Der Dieb, der stirbt, ist der Dieb in uns, den wir nicht mehr brauchen. Der Dieb, der neu geboren wird, ist die nächste Schicht des Teiles von uns, der stehlen will. Solche Schichten werden auftauchen, bis wir alle diese Teile erkannt und verabschiedet haben. Dann braucht es keine Diebe mehr, weil es nichts mehr zu stehlen gibt. Wir erkennen, dass alles unseres ist, weil wir das Ganze sind, und nichts gehört uns, weil wir nur ein Teil sind.
Genauso verhält es sich mit der Rechtschaffenen. Sie ist der Teil von mir, der alles richtig und ordentlich machen will und niemandem etwas zuleide tun möchte. Auch sie muss verabschiedet werden, um einer weiteren Sicht von Menschlichkeit Platz zu machen, in der es keine Rechtschaffenheit braucht, weil alles seine Richtigkeit hat und alles in seinem Sein anerkannt wird.
Im Ganzen gesehen, verringert sich im Prozess der Bewusstwerdung, den jedes Einzelwesen und die gesamte Menschheit durchläuft, das Leiden und die Angst, die eine Folge der Unbewusstheit sind. Es verringern sich die Fixierungen auf Rollen und Persönlichkeitsaspekte. Dafür wächst der Raum, den die Liebe und die Lebensfreude einnimmt. Das Ganze bleibt sich selbst gleich und verändert sich zugleich und wächst in diesem Prozess. Es ist die Kraft der Evolution, die dem Ganzen innewohnt, die dieses Wachstum bewirkt und befördert.
Auch wenn es in planetarischen und intergalaktischen Maßstäben ein verschwindend geringes Wachstum ist, das sich da auf diesem winzigen Sternchen im weiten Raum abspielt, ist es für uns von höchster Bedeutsamkeit, um diese Kraft des Wachstums zu wissen. Wir sollten sie durch uns durch wirken lassen, anders gesagt: wir brauchen nur zuzulassen, dass sie durch uns hindurch wirkt und dass wir dieses Wirken mit unseren Kräften und unserer Bewusstheit stärken.
Denn das kann unser Beitrag dazu sein, dass das menschliche Leiden verringert wird und die Kulturen, die Gesellschaften und die Räume der Liebe auf dieser Welt nicht nur in ihrem Bestand gesichert werden, sondern weiter wachsen und sich entfalten, damit sie den Menschen und der Welt mehr und mehr Segen bringen können.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com.
In deutscher Übersetzung wird das Buch 2012 im Droemer Verlag erscheinen.

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