09.07.2011

Regel 38: Das Leben ändern

It is never too late to ask yourself, “Am I ready to change the life I am living? Am I ready to change within?” Even if a single day in your life is the same as the day before, it surely is a pity. At every moment and with each new breath, one should be renewed and renewed again. There is only one way to be born into a new life: to die before death.

Es ist nie zu spät, dich selber zu fragen: “Bin ich bereit, das Leben zu ändern, das ich lebe? Bin ich bereit, mich innen zu ändern?“ Selbst wenn ein einziger Tag in deinem Leben der gleiche ist wie der Tag vorher, ist das sicher schade. In jedem Moment und mit jedem neuen Atemzug sollte man erneuert und wieder erneuert sein. Es gibt nur einen Weg, in ein neues Leben geboren zu werden: Vor dem Tod zu sterben.

Ändern heißt sterben, das loslassen, was uns zur vertrauten Gewohnheit geworden ist, was uns Sicherheit gibt, von äußeren Dingen bis zu dem, was wir in uns selber über uns festhalten. Wer bin ich, und was davon kann sich ändern, und was steht unverrückbar fest, kann nicht aus den Angeln gehoben werden? Was sind die Kernstücke meiner Identität? Und was würde passieren, wenn selbst diese Kernstücke sich verändern?
Ich stoße an die Grenze der Leere, dort, wo alle Konzepte, durch deren Bestehen mein Leben in ein Raster eingeordnet war, verloren gegangen sind, leicht wie die Wolken am Himmel. Es gibt keine Koordinaten mehr, die mich als Fixpunkt ausweisen, weil der Nullpunkt zu wandern begonnen hat. So sterbe ich in den Moment der Leere hinein, frei und ungebunden wie ein Vogel, allen Schwerkräften enthoben.
Innerlich frei bin ich erst, wenn ich bereit bin, mich dauernd ändern zu lassen, also mich ganz dem anzuvertrauen, was das Leben mit mir vorhat, ohne Widerstand und Sturheit. Doch was heißt es, den Eigensinn aufzugeben? Passe ich mich nur an wie ein Wäschestück auf der Leine jedem Windstoß? Tue ich nur mehr das, was andere von mir wollen? Wer oder was ist dieses Leben, dem ich mich hingeben soll?
Das Leben ist das, was sich selbst dauernd ändert, was jeden Tag frisch beginnt und in neuer Form ablaufen lässt. Was gleich bleibt, sind unsere Vorstellungen, unsere Konzepte von diesem Leben. Wir tun so, als wäre das Bett, aus dem wir am Morgen heraussteigen, das gleiche, wie das, in das wir am Abend hineingestiegen sind. Doch woher wollen wir das wissen? Was uns selber betrifft, können wir schwerlich leugnen, dass wir andere sind als die die schlafen gegangen sind, bereichert um Träume, Erholung und Regeneration.  
Sich einzuschwingen auf die Veränderungen des Lebens ist vielleicht die höchste Lebenskunst, die wir als Menschen erwerben können. Doch auf welche Welle, die uns das Leben bietet, sollen wir aufspringen, welche sollen wir vorbeirollen lassen, weil sie nicht für uns passt? Wir sind schon am Holzweg, wenn wir nach einer Regel fragen, die uns verraten soll, was zu tun und was zu lassen ist. Es gibt keine Regel, nach der das Leben uns jeweils das für uns Beste am Präsentierteller serviert. Wir können nur von Moment zu Moment schauen, was uns das Leben bietet und darauf achten, welche Impulse unser Inneres dazu bereitstellt.
Je freier wir uns von unseren konditionierten Begierden und von den daraus gespeisten Erwartungen und Illusionen werden, desto klarer können wir in uns selber unterscheiden: Was fühlt sich stimmig an und was lenkt mich nur ab von meiner Bestimmung? Das Leben gibt uns wieder in jedem Moment das Feedback auf unsere Entscheidung, auf unsere Handlungen und stellt uns damit vor die nächste Weggabelung.
Da dieses Leben zugleich in einem Zusammenspiel des Inneren und des Äußeren ist, da also das Leben in uns selber in jedem Moment wirkt, gibt es keine falschen Entscheidungen, keine falschen Handlungen, kein verfehltes Leben, keine Irrtümer und keine Irrwege. Unser Inneres mit seinen Bewertungs- und Entscheidungsvorgängen ist auch nur Teil der gesamten Orchestrierung und erscheint nur unserer Kurzsichtigkeit als etwas, das nur uns gehört und das an einem anderen Ort und nach einer anderen Logik abläuft wie das Äußere. Vielmehr wirkt das Leben durch uns durch, indem es uns die Einschätzungen des Äußeren und die daraus abgeleiteten Handlungsorientierungen anbietet, mit denen wir an der Welt mitwirken.
Scheinbar können wir unser Leben dann versäumen, wenn wir nicht wahrnehmen, was uns das Leben gerade bietet. Das Gefühl der Langeweile dient dazu, uns darauf hinzuweisen, dass wir gerade etwas Wichtiges übersehen, eine Überraschung, die uns das Leben gerade in diesem Moment bereitgestellt hat. Statt also der Langeweile zu verfallen oder hektisch nach einer Ablenkung zu suchen, die uns die Langeweile vertreiben soll, können wir schauen, was uns denn genau dieser Moment als Geschenk anbietet – eine Schwalbe, die vorbeifliegt, ein Regentropfen, der auf der Fensterscheibe zerplatzt, ein Atemzug, der sich wie neu anfühlt…
Doch ist auch das scheinbare Versäumen des Lebens ein Teil des Lebens, ein Teil, der immer kleiner wird, je mehr die Bewusstheit in uns wächst. Bewusstheit heißt, dass wir das sich Verändernde am Leben in den Blick und uns ihm anschließen, während wir das scheinbar Gleichbleibende am Rand mitlaufen lassen. Sobald sich das Gleichbleibende in den Vordergrund drängt, sind wir aus der Moment-Bewusstheit herausgefallen und befinden uns im Denkmodus und unterliegen vermutlich einem angstgesteuerten Muster.
Bewusstheit heißt auch, dass jeder Moment den vorigen sterben lässt, dass nichts aus der Vergangenheit gerettet werden kann und dass jeder Moment ein absoluter Neubeginn ist, eine neue Zeit eröffnet und einen neuen Menschen hervorbringt. Deshalb sterben wir, sobald wir bewusst sein, in jedem Moment. Wir lernen das Sterben und lernen am Sterben, sodass uns der „große“ Tod nicht mehr überraschen oder schrecken kann.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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