05.05.2011

Regel 10: Jede Reise ist eine innere Reise

East, West, South or North makes little difference. No matter what your destination, just be sure to make every journey a journey within. If you travel within, you’ll travel the whole wide world and beyond.

Osten, Westen, Süden oder Norden unterscheiden sich nicht wirklich. Gleich was dein Ziel ist, vergewissere dich nur, jede Reise zu einer inneren Reise zu machen. Wenn du innerlich reist, bereist du die ganze weite Welt und auch die jenseitige.

Heute habe ich von einem Taxifahrer im Gaza-Streifen gelesen. Er lebt in diesem 360 Quadratkilometer großen Gebiet wie seine 1,5 Millionen Mitbewohner und hat zuletzt vor 30 Jahren eine Reise in ein Nachbarland unternommen. Die Chancen, dass er irgendwann diesen Flecken verlassen kann und eine Reise unternehmen kann, sind gleich Null. Vielleicht empfindest du auch das Mitgefühl – wenn wir in einem Land leben können, in dem alles offen ist, alles möglich, in alle Himmelsrichtungen auszuschweifen, mit einem Pass, der alle Grenzen und einer Kreditkarte, die alle Türen öffnet. Und auf der anderen Seite Milliarden von Menschen, die noch weniger Lebenschancen und Bewegungsfreiheiten haben als dieser Taxifahrer.

Es gehört zum Menschsein, die räumliche Veränderung zu lieben, das Erkunden der Himmelsrichtungen, das Reisen. Wir wollen zum Horizont und dort einen neuen Horizont finden, der wieder verlockt, erreicht und überwunden zu werden. Doch das Reisen stößt immer an eine Grenze, die Grenze des Raumes. Hinter jeder überwundenen Grenze stellt sich eine neue. In unserem Reisen möchten wir dieser Begrenztheit entrinnen, doch wir können sie im Äußeren nie überwinden, sie liegt in der Natur des Äußeren, in unserer Körperlichkeit. Nie kommen wir in den Süden, wenn wir nach Süden wollen, denn dort gibt es wieder ein noch südlicheres Süden, und selbst wenn wir an einem der Pole angelangt sind, an denen die Himmelsrichtungen in sich zusammenfallen, sind wir nicht angekommen, sondern wollen weiter.
Reisen weckt unsere Neugier und unseren Drang nach Expansion. Es steht im Dienst des emanzipatorischen Bewusstseins. Diese Bewusstseinsform will sich unterscheiden von dem, was schon war, es will sich verändern und jeder Festlegung entkommen. Es will die Selbstverständlichkeiten und Abgegriffenheiten des Alltags hinter sich lassen und Abenteuer finden, die herausfordern und inspirieren. Es ist die Energie, die den jungen Menschen aus der Behütung durch die Eltern in die weite Welt schickt, um von dort als veränderter und reiferer Mensch zurückzukommen.

Die äußere Reise verstrickt sich allerdings in das Dilemma dieser Bewusstseinsstufe: jeder Drang nach immer Neuem wird in sich langweilig und alltäglich. Darum suchen wir z.B. nach immer neuen Formen des Reisens und der Wegbewegung. Aber wir entkommen dem Dilemma nicht, noch nie haben wir wirklich das gefunden, was wir im Reisen gesucht hätten, denn auch jedes Neue ist am nächsten Tag schon alt, oder im nächsten Moment. So drängt uns unser emanzipatives Streben weiter und lässt uns nicht ruhen, irgendwo muss es ja das Gelobte Land, Shangrila, Avalon geben, dort, wo unsere Sehnsucht zur Ruhe kommt und das gefunden hat, dem die Suche gegolten hat.

Diese Stille finden wir nicht in den drei Dimensionen unseres Im-Raum-Seins oder in einer der Richtungen des Himmels, sondern in unserem Inneren. Wenn wir tiefer ins Innere einsteigen, finden wir dort Zugänge zur Weite und zur Unendlichkeit des Seins.

Und dann entdecken wir, dass das, was uns das Reisen interessant macht, das ist, was sich im Inneren verändert. Natürlich genießen wir die neuen Eindrücke des Äußeren, aber im Tiefsten ist es die Weitung des Inneren, die uns beglückt. Jede äußere Reise ist also eine innere. Jede Ortsveränderung bewirkt eine innere Positionsverschiebung.  

Und wenn sich die Innenwelt in ihren faszinierenden Seiten öffnet, kann auch der Drang nach äußerlichen Veränderungen zurückgehen. Dann muss nicht jeder Urlaub den ökologischen Fußabdruck ins Unermessliche und Uneinbringbare vermehren, sondern dann wird auch eine kleinere oder weniger spektakuläre Ortsveränderung ihre kostbaren inneren Wirkungen entfalten.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.


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