04.05.2011

Regel 9: Geduld

Patience does not mean to passively endure. It means to be farsighted enough to trust the end result of a process.  What does patience mean? It means to look at the thorn and see the rose, to look at the night and see the dawn. Impatience means to be so short-sighted as to not be able to see the outcome. The lover’s of God never run out of patience, for they know that time is needed for the crescent moon to become full.

Geduld heißt nicht, etwas passiv auszuhalten. Es bedeutet, weitsichtig genug zu sein, um dem Endresultat eines Prozesses zu vertrauen. Was heißt Geduld? Es bedeutet, auf den Dorn zu schauen und die Rose zu sehen, auf die Nacht zu schauen und die Dämmerung sehen. Ungeduld bedeutet, so kurzsichtig zu sein, dass das Ergebnis nicht gesehen werden kann. Die Liebhaber Gottes haben nie einen Mangel an Geduld, weil sie wissen, dass es Zeit braucht, dass der zunehmende Mond voll wird.

Ungeduld entsteht erst, wenn Zeit ein knappes Gut wird. Zeit wird ein knappes Gut, wenn sich die Menschen von den Rhythmen der Natur entfernen. Die Natur hat für alles die Zeit, die es braucht. Die Natur ist weder geduldig noch ungeduldig. Erst der Mensch stülpt allen Vorgängen ein Zeitschema drüber und macht sie damit messbar. Alles, was gemessen wird, wird in Zahlen dargestellt. Zahlen sind völlig unnatürlich, also digital. Sie laufen beständig weiter, ohne Ziel und Ende. Nach jeder Zahl gibt es eine weitere. Wir kommen nie an, wir sind nie fertig, wir müssen immer weiter. Da liegt die Quelle der Ungeduld.

Die Beherrschung der Zeit ist in Wirklichkeit die Unterwerfung unter die Herrschaft der Zeit. Die Menschen haben ein Schema erfunden, mit dem sie sich selbst versklaven. Ein Blick auf die Uhr genügt, schon wird der Körper in den Alarmzustand versetzt. Ungeduld ist eine Form von selbstauferlegtem Stress, gelenkt von einem Muss, einem Druck, der uns zwingt unter Androhung von Konsequenzen.

Es ist so, als wollte uns unser Körper dauernd signalisieren: Nur keine Hektik, alles mit der Ruhe. Aber wir, d.h. unser neurotischer Verstand treibt ihn an, bis er selber meint, dass Antreiben normal ist, dass ohne Stress nichts funktioniert, oder dass ohne Stress sofort die Langeweile ausbricht.

Unter Druck und Stress werden wir immer kurzsichtig (manche Leute merken das wörtlich an ihrem Sehsinn), wir sehen nur, was vor uns liegt. Unser Gesichtsfeld engt sich ein und wir erkennen nicht, was dahinter liegt. Aus der Polyvagaltheorie wissen wir, dass sich ebenfalls unser Gehörssinn einengt und wir nur mehr tiefere Frequenzen hören, unterhalb der verbalen Kommunikationskanäle. Damit überhören wir das, was wesentlich ist.

Das materialistische Bewusstsein bewirkt die Institutionalisierung der Ungeduld. Jede Minute ist kostbar, jede verlorene Minute ein Verlust, darstellbar in Zahlen. Jede Minute muss ausgefüllt sein, bleibt sie leer, entsteht die Angst, etwas versäumt zu haben. Der Ungeduldige ist der Erfolgreiche, der Geduldige versäumt die Geschichte.

Häufig wird die Geduld auch mit Erdulden verwechselt. Die Geduldige sei in Wirklichkeit jemand, die alles geschehen lässt, ohne aktiv einzugreifen und so leicht von den Ereignissen überrollt wird.Wir können uns kaum mehr vorstellen, dass das Langsame und Abwartende einen Sinn machen könnte, so sehr stehen wir unter der Knute des Antreibers, den uns das kollektive materialistische Bewusstsein verordnet hat.

Doch der wirklich Geduldige hat das Vertrauen auf die Selbstentfaltung und Selbstorganisation in allem, was wichtig ist. Er ist eingestimmt auf die Abläufe in der Natur, die alles nach einem inneren Zeitablauf regelt. Er versteht es, sich aus den Zwangsmechanismen des kollektiven Wahnsinns auszuklinken und statt auf die Uhr zu starren, die Vögel auf den Bäumen zu beobachten, die weder säen noch ernten, und doch vom himmlischen Vater ernährt werden.

„Alles Wesentliche geschieht von selbst“, ist eine der Weisheiten der Geduldigen, sie hat immer wieder erlebt, dass hektische Aktivität mehr zerstören kann als das bedächtige Warten auf den richtigen Moment für das richtige Handeln. Oder dass das Warten dazu geführt hat, dass sich das Problem von selber in Nichts aufgelöst hat. Wenn wir uns beim Warten entspannen und die Zeitlücke genießen, statt nervös zu werden, kann uns ein weiter Horizont geschenkt werden, in dem etwas Überraschendes, Neues, Wundersames auftaucht.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen. 


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