03.05.2011

Regel 7: Einsamkeit und Alleinesein

Loneliness and solitude are two different things. When you are lonely, it is easy to delude yourself into believing you are on the right path. Solitude is better for us, as it means being alone without being lonely. But eventually it is best to find a person, that person will be your mirror. Remember, only in another person’s heart can you truly see yourself and the presence of God within you.

Die Einsamkeit und das Alleinsein sind zwei verschiedene Sachen. Wenn du einsam bist, ist es leicht, dass du dich selbst täuschst zu glauben, dass du auf dem richtigen Weg bist. Alleinsein ist besser für uns, weil es bedeutet, dass wir alleine sind, ohne einsam zu sein. Aber letzten Endes ist es besser, eine Person zu finden, und diese wird dein Spiegel sein. Erinnere dich, nur im Herzen einer anderen Person kannst du dich und die Präsenz Gottes in dir drinnen wirklich erkennen.

Wenn wir alleine sind und darunter leiden, dass niemand da ist, fühlen wir uns einsam. Wir spüren eine Bedürftigkeit in uns, die uns vermittelt, dass wir unvollkommen sind, wenn niemand sonst da ist. Das Alleinesein, also die Nichtanwesenheit von anderen Menschen dagegen kann eine Quelle der Selbstfindungen und Inspiration sein. Paul Tillich hat geschrieben: „Die Einsamkeit drückt den Schmerz des Alleinseins aus – die Abgeschiedenheit dessen Reichtum.“

Letztlich ist jedes Alleinesein eine Illusion, ein Drama, das unser Körper-Verstand produziert. Es taucht auf, wenn der Verstand die Herrschaft in unserem Bewusstsein ergreift. Wenn wir nicht von unserem Denken dominiert sind, kommen wir gar nicht auf die Idee, dass uns etwas fehlen können. Wir können zwar Bedürfnisse spüren, die aus dem Körper kommen, aber sie verschwinden, wenn wir sie stillen. Das Denken produziert Erwartungen und reproduziert Enttäuschungen. Daraus nähert sich das quälende Gefühl der Einsamkeit.

Der besondere Schmerz, der im Alleinsein hochkommen kann, stammt jedoch aus der Quelle kindlicher Vernachlässigung oder kindlichen Verlassenwerdens. Je jünger ein Kind ist, desto mehr braucht es die sichere und beständig Obhut und Nähe einer erwachsenen Person. Wenn diese fehlt, kann das Existenzängste auslösen. Dazu kommt, dass Traumatisierungen  im Mutterleib geschehen können z.B. durch die Erfahrung des Nicht-Erwünscht-Seins oder eines Abtreibungsversuches oder durch dramatische Ereignisse im Leben der Mutter. Solche Erfahrungen können eine noch tiefere Wunde hinterlassen, die durch Situationen des Fehlens von Kontakten im späteren Leben aktiviert wird.

Alleinesein stärkt den Selbstbezug und kann als Erholung von üppigen oder anstrengenden Sozialkontakten dienen. Im Alleinesein nehmen wir uns selbst mehr wahr, spüren, was für uns stimmt und welche Richtung für unser Leben und unsere Aktivitäten richtig ist. Im kommunikativen Netz können wir uns leicht verlieren und uns selbst untreu werden, indem wir auf die verschiedenartigen Erwartungen und Wünsche anderer Menschen eingehen.

Wenn wir jedoch beim Alleinesein unruhig werden und unter der Abwesenheit von Menschen leiden, sind wir in unseren Mustern gefangen. Gestärkt durch Gedanken, steuern uns unbearbeitete Gefühle aus unserer Vergangenheit.

Denn im tieferen Sinn wissen wir: Wir sind immer in Verbindung. Alleine dadurch, dass wir atmen, tauschen wir uns beständig mit unserer Umwelt aus, alleine dadurch, dass wir herumschauen, nehmen wir anderes in uns auf, alleine dadurch, dass wir hören, dringen Geräusche in uns ein und verändern uns. Vielleicht reden die zwitschernden Vögel mit uns oder signalisiert uns der blühende Baum, dass er es mag, wenn wir ihn anschauen?

Die Menschen, die im tribalen Bewusstsein lebten, brauchten kein Wort für Einsamkeit, weil es keine Realität dafür gab. Nur wenn jemand aus einem Stamm ausgestoßen wurde und damit auch aus dem tribalen Bewusstsein, bedeutete es die radikale Vereinsamung und war gleichbedeutend mit einer Todesstrafe. Erst mit dem Heraustreten aus dieser Bewusstseinsstufe, mit der Emanzipation aus tribalen Bindungen, entstehen die Gefühle von Sehnsucht und Einsamkeit. Heute, da wir nicht mehr auf eine bestimmte Sozialform angewiesen sind, um überleben zu können, müsste die Vereinzelung keine gefühlsmäßige Belastung darstellen, außer eben, sie wird aus frühen Verletzungen genährt.

Die Kraft und Kreativität, die in einer tief empfundenen menschlichen Begegnung liegt, ist eine wichtige Bestätigung dieser Verbundenheit, in der wir uns dauernd bewegen. Wir üben das z.B. in Gruppen mit Augenkontaktübungen, z.B. mit dem Augenkontaktatmen. Das Gesehenwerden durch andere Menschen ist eine wichtige Quelle der inneren Öffnung und kann auch alte Erfahrungen des Verlassenwerdens, Nicht-Ernstgenommenwerdens und Ignoriert-Werdens überschreiben. Das Sehen von einem Gegenüber kann aus der Beschränktheit der eigenen Person herausführen und einen weiteren Sinn von Menschlichkeit öffnen.

Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns in einer solchen Begegnung nicht verlieren, da wir dann leicht in die Einsamkeitsfalle tappen, wenn diese Person nicht mehr da ist. Wir können dazu neigen, Menschen, mit denen wir eine solche Begegnung erleben, zu idealisieren und uns davon abhängig machen. Dann ist es möglich, dass wir leicht enttäuscht sind, wenn diese Tiefe der Begegnung einmal nicht klappt, und dass wir die andere Person dafür verantwortlich machen. Wir sind in eine unbewusste Abhängigkeit verfallen.

Deshalb erfordert es eine große innere Klarheit, Offenheit und Reife, uns auf eine Begegnung einzulassen, in der wir bereit sind, im anderen die eigene Göttlichkeit zu erkennen. Wir bewegen uns dabei auf eine holistische oder ganzheitliche Bewusstseinsstufe: Wir legen alle Masken ab und streben zum reinen Kern des Seins, der unverletzt und wunderschön aufscheint. In diesem reinen Kern gibt es keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen Ich und Du.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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