15.05.2011

Regel 14: Widerstand loslassen


Try not to resist the changes that come your way. Instead let life live through you. And do not worry that your life is turning upside down. How do you know that the side you are used to is better  than the one to come?

Versuch den Änderungen, die dir entgegenkommen, keinen Widerstand entgegen zu setzen. Vielmehr lass zu, dass sich das Leben durch dich lebt. Und mach dir keine Sorgen, dass sich in deinem Leben als umdreht. Wie weißt du, dass die Seite, an die du gewohnt bist, besser ist als die, die kommen wird?

Leben ist Veränderung, und das bleibt so bis zum Tod, dann endet eine bestimmte Veränderungsmöglichkeit, während die Überbleibseln weiteren Veränderungsprozessen unterworfen sind. Jeder Stillstand bedeutet, dass wir die Veränderung, die sich gerade vollzieht, übersehen.

Manche Veränderungen in unserem Leben mögen wir, andere gefallen uns nicht. Wir haben den natürlichen Impuls, das, was uns nicht in den Kram passt, abzuwehren und zu bekämpfen, und mehr von dem zu wollen, was uns gefällt. Doch die Veränderung ist schon da, sie ist passiert, ohne uns zu fragen, ob uns das Recht ist. Das Wetter ist in dem Moment schlecht geworden, als ich einen Spaziergang machen wollte. Ich ärgere mich und mache das Wetter dafür verantwortlich, dass ich jetzt sauer bin statt mich am Spaziergang erfreuen zu können. Ich drücke die falsche Taste am Computer, und die Arbeit von einer Stunde ist futsch. Schuld ist das blöde Ding, das so unsinnig reagiert.

Sofort, wenn etwas geschieht, was unsere Erwartungen durchbricht, reagieren wir mit Stress, mit innerer Anspannung. Wir müssen uns neu organisieren und orientieren, manchmal noch dazu unter Zeitdruck. Das ist ein Aufwand, den unser System leisten muss. Dazu kommen noch die Gefühle, vorher z.B. hatten wir freudige Erwartung oder eine kreative Arbeitsphase. Diese wandeln sich blitzschnell und machen unangenehmen Gefühlen Platz: Enttäuschung, Ärger, Frustration. Sie bewirken, dass der Stress verlängert und verstärkt wird und dass wir uns nicht entspannen können. Dazu müssten wir wieder zu den angenehmen Gefühlen zurückkehren. Da sich die Umstände so zum Schlechteren geändert haben, geht das eben nicht.

Die Umstände bewirken folglich, wie wir uns fühlen – das Wetter, der unbrauchbare PC usw. Sobald die unangenehme Störung unserer Erwartungen eintrifft, fühlen wir uns als das Opfer von höheren und unkontrollierbaren Mächten. Wenn wir diese Kausalität nicht umdrehen können, bleibt uns nichts anderes übrig, als immer wieder gegen das Leben und seine Umstände zu opponieren.

Unsere Neigung, dem Leben gegenüber Widerstand zu leisten, bewirkt eine sinnlose Vergeudung von Energie. Denn der Widerstand kommt immer im Nachhinein, wenn alles schon passiert ist. Die Wirklichkeit ist immer schon einen schritt weiter als der Widerstand. Widerstand ist also zwecklos. „Wenn du gegen Gott kämpfst, verlierst du immer“, lautet ein weiser Spruch.

Er verschwindet allerdings nicht dadurch, dass wir gegen den Widerstand einen Widerstand aufbauen, indem wir ihn bekämpfen: Schon wieder habe ich mich so unnütz aufgeregt, wann höre ich endlich auf damit? Erst recht: Widerstand gegen Widerstand ist zwecklos.

Es ist klar, dass wir mit dieser Strategie nie aus dem Widerstand herausfinden. Im Gegenteil, wir füttern ihn und machen ihn noch wichtiger. Vielleicht erleichtert uns das Abführen von Aggression, wenn wir zu schimpfen und fluchen anfangen. Aber der Widerstand wird beim nächsten Mal genauso stark wieder auftreten.

Was ist der Ausweg? Nun, hier kommt ein bewährtes Rezept: Was den Widerstand wirklich und dauerhaft abschwächt, ist, ihn zu akzeptieren. Aus gewöhnlich gut informierten Quellen verlautet, dass das Annehmen des Widerstandes immer wieder zu ihrem Schmelzen führt. Hast du etwas gegen die Veränderung, die gerade passiert ist, so akzeptiere, dass du gerade die Welt nicht akzeptieren kannst so wie sie gerade ist.

Also: Wenn ein Widerstand auftaucht (und das passiert ja andauernd), ist es ein Experiment wert, die Haltung des interessierten und höflichen Willkommenheißens einzunehmen: Der (unangemeldete) Gast schaut nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe, aber wenn ich ihm freundlich begegne, verwandelt er sich über kurz oder lang in eine sympathische Person. So werden aus den widrigen Umständen wichtige Ressourcen.

Und wenn wir lernen, als erstes den Widerstand gegen das Leben zu akzeptieren, wird es immer leichter, das Leben selber und seine Umstände anzunehmen, wie sie eben sind. Damit finden wir immer mehr in die Haltung der Gelassenheit. Sie nimmt das Leben mit Gleichmut, der sich nicht aus der Fassung bringen lässt, was auch immer die Umstände sind und behält die Heiterkeit auch dort noch bei, wo sich der Spaß aufzuhören scheint. Wenn sich das Bewusstsein mehr auf den Moment konzentriert, hängt es nicht mehr so stark in den Erwartungen fest. Erwartungen fesseln unser Inneres und blockieren die Kreativität und Flexibilität. Mittels Erwartungen wollen wir absolutistisch über die Zukunft regieren. Wir malen uns aus, wie etwas zu sein hat, und reagieren ungehalten, wenn das Leben etwas anderes für uns bereithält und uns dieses Neue nicht gefällt.

Warum sprechen wir von einem Gewohnheitstier? Weil Gewohnheiten nichts genuin Menschliches sind. Gewohnheiten haben Tiere und Pflanzen auch.Das Besondere am Menschsein beginnt dort, wo die Gewohnheiten enden und die Kreativität beginnt, also die neuen Ideen und Energien.

Erwartungen sind auch nur Ausdehnungen von Gewohnheiten: Jede Erwartung knüpft an etwas an, was schon bekannt ist, schon einmal geschehen ist, ist also eine Verlängerung einer Gewohnheit. Ich kenne den Geschmack des Weines XY und erwarte mir den gleichen Genuss wie beim vorigen mal. In dieser Erwartung bestelle ich das Glas Wein und habe dann zwei Möglichkeiten: die Erwartung wird erfüllt oder enttäuscht. Der Genuss des Weines ist überlagert von der Erwartungsgeschichte.

Wir pflegen auch unsere negativen Erwartungen, unsere Befürchtungen und Ängste vor der Zukunft. Manchmal nutzt unser Verstand solche Projektionen in die Zukunft, um sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, in der Meinung, dass das Schlimme dadurch weniger schlimm wird.

Für den Verstand ist es also das Schlimmste, mit einer Situation konfrontiert zu sein, auf die er nicht vorbereitet ist, für die er keine Strategie zur Verfügung hat, dann muss er nämlich die Kontrolle abgeben, und das Behalten der Kontrolle ist seine wichtigste Aufgabe und Existenzberechtigung. Deshalb sagt er auch gerne bei Überraschungen, dass er das ohnehin erwartet hat. 

Wundern ist das Gegenteil von Erwarten. Es geht über den Verstand hinaus. Wenn die Erwartungen schwinden, gehen wir nicht mehr laut Plan durchs Leben – jetzt nehme ich das Frühstück ein, dann gehe ich zum Zug, dann steige ich ein und suche einen Platz, dann komme ich an usw. Ohne Erwartungen läuft das Leben zwar, wie es läuft, genauso wie oben beschrieben, aber es ist anders und von Staunen geprägt: Wie das Frühstück köstlich schmeckt, was sich am Wegrand beim Gehen zeigt oder wie gerade der Himmel ausschaut, solche neuen und einmaligen Eindrücke bestimmen den Lebenslauf, und nicht die geplanten Vorgänge. Es ist dies also kein chaotisches Leben, die Abläufe haben ihre Folgerichtigkeit und gehorchen den Regeln der Realität, aber die Ebene der Gewohnheiten ist nicht wichtig und tritt hinter das Erleben des Wunderbaren und Einmaligen zurück.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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