22.05.2011

Regel 19: Liebst du dich selbst, kannst du nur geliebt werden.

If you want to change the way others treat you, you should first change the way you treat yourself. Unless you learn to fully love yourself, fully and sincerely, there is no way you can be loved. Once you achieve that stage, however be thankful for every thorn that others might throw at you. It is a sign that you will soon be showered in roses.

Wenn du die Art verändern willst, wie andere mit dir umgehen, solltest du zuerst die Art verändern, wie du selbst mit dir umgehst. Wenn du nicht lernst, dich selbst voll zu lieben, voll und ehrlich, dann gibt es keinen Weg dazu, dass du geliebt werden kannst. Wenn du jene Stufe einmal erreicht hast, sei aber dankbar für jeden Dorn, den andere auf dich werfen mögen. Er ist ein Zeichen dafür, dass du bald mit Rosen überschüttet wirst.

In dem Maß, in dem wir lernen, uns selbst zu lieben, baut sich unsere Abhängigkeit davon ab, was wir von anderen kriegen. Wir werden weniger bedürftig und anspruchsvoll, was unsere Umgebung betrifft. Statt dessen sind wir offener dafür, bedingungslos zu geben und für andere da zu sein. Deshalb ist es eine vornehme Aufgabe, die Liebe zu sich selbst zu stärken.

Wie soll das nun gehen? Es gibt doch so vieles, was nicht in Ordnung ist mit uns selbst, wie sollen wir uns da lieben? Schon wieder haben wir etwas vergessen – sollen wir uns dafür lieben? Schon wieder ist unser Temperament mit uns durchgegangen und wir haben jemanden verletzt. Schon wieder haben wir Zeit unnütz verplempert. Schon wieder haben wir vergessen, die Herdplatte abzudrehen und das Essen samt Kochgeschirr ist verkohlt. Usw., usf. Eine endlose Liste von Fehlern, Schwächen, Versagen häuft sich Tag für Tag an und zeigt uns, wie unvollkommen wir sind. Und erst die Listen der Tageslisten, all die Tage und Jahre zurück...

Wie also sollen wir uns angesichts dieser erdrückenden Beweislage, die gegen uns spricht, selbst lieben? Gerade die Missgeschicke und Verfehlungen, die uns unterlaufen, sind besondere Gelegenheit, uns anzunehmen statt uns fertig zu machen. Wenn wir zurückdenken, wie wir noch ein Kind waren – und wo wir so viel falsch gemacht haben: Natürlich sind wir dafür gescholten worden, damit wir es besser lernen. Aber hätten wir uns nicht gewunschen, dass wir trotzdem geliebt werden? Erst langsam haben wir gelernt, dass es Situationen gibt, in denen wir keine Liebe kriegen, und dass wir selbst daran schuld sind durch unser Fehlverhalten. Erst langsam haben wir gelernt, dass Liebe von Bedingungen abhängt. Und lange haben wir das nicht glauben können, weil wir auf die Welt gekommen sind mit einer unbedingten Liebe für diese Eltern, die uns zur Welt gebracht haben.

Und natürlich hatten wir auch keine Schuldgefühle, wenn wir das Essen, das uns nicht geschmeckt hat, ausgespuckt haben oder wenn wir das Tischtuch samt Porzellangedeck und voller Suppenschüssel vom Tisch gezogen haben. An den Reaktionen der Erwachsenen haben wir gelernt, dass wir, wenn wir nicht in ihrem Sinn und nach ihren Vorstellen handeln, ihre Liebe verlieren. Sie kommt dann vielleicht wieder, aber sie wird unsicher. Wir beginnen das neue Lernen: Nicht das Lernen, wie es geht, das Essen mit Essbesteck in den Mund zu bugsieren, oder wie man einen Wecker in seine Bestandteile zerlegen kann, sondern das Lernen: Was muss ich tun und was muss ich vermeiden, damit die Liebe bleibt. Was sind die Bedingungen, unter denen ich geliebt werde, und was sind die Bedingungen, unter denen ich die Liebe verliere? Damit beginnt das Lernen der Anpassung an die Erwartungen und Bedürfnisse der anderen, das Lernen, das durch Bewertungen und Beurteilungen durch andere gesteuert wird. Damit beginnt das Lernen der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ideen.

Denn Liebe ist Leben, und Lieblosigkeit bedroht das Leben. Wir sichern unser Leben durch Anpassung. Diese Fähigkeit zur Anpassung nehmen wir alle aus unserer Kindheit mit. Wie wir sie erlernt haben, haben wir gleichzeitig unsere Fähigkeit, uns selbst zu lieben, verlernt. An die Stelle der Selbstliebe sind die Selbstkritiken und Selbstabwertungen getreten. Wir haben einen unbarmherzigen und unerbittlichen inneren Kritiker in uns aufgerichtet, der uns gleich eine über die Finger gibt, wenn wir den geringsten Fehler machen. Wir fangen gleich an, uns selbst zu beschmipfen, wenn etwas schief gelaufen ist, bevor uns die anderen abwerten können. Jedesmal, wenn das passiert, krümmt sich etwas ein in uns selbst, macht uns kleiner und reduziert unser Atemvolumen.

So treten wir der Welt und den anderen Menschen gegenüber, mehr oder weniger verkrümmt und verkleinert. Dann sollen die uns lieben, aus ihrer eigenen Verkrümmung und Verkleinerung heraus? Ein äußerst unwahrscheinliches Vorhaben, wie Blinde, die sich die Farben erklären wollen. Wieder bestätigen wir uns, wir sind nicht liebenswert, weil wir so fehlerhaft sind. Das Weltbild ist fertig und abgesiegelt: Die Liebe, die wir bräuchten, gibt es nicht, und wir müssen uns mit dem bisschen an Liebe, das wir da oder dort kriegen, zufrieden geben. Und zumindest ein wenig Erleichterung verschafft es uns, wenn wir immer wieder jammern oder andere für unser Unglück verantwortlich machen.

Aus diesem Korsett können wir nur entkommen, wenn wir den Spieß umdrehen und bei uns selber anfangen. Wir müssen unsere Verwundungen aus der Kindheit heilen, schließlich können wir ja auch körperlich nur gesund werden, wenn wir alle Entzündungsherde in uns geheilt haben. Heilen heißt, dass wir die Lieblosigkeiten von damals durch Liebe im Jetzt ersetzen müssen. Dann wächst unsere Selbstliebe und wir finden zurück zu unserer kindlichen Unschuld.

Das heißt nicht, dass wir unseren eigenen Fehlern gegenüber blind werden. Selbstliebe ist nicht gleich Selbstüberschätzung oder Selbstgefälligkeit. So wie die richtige Liebe der Eltern die Kinder nicht eitel und selbstsüchtig werden lässt, sondern liebevoll zu anderen und verständnisvoll zu sich selbst, so heilt die richtige Selbstliebe auch die Blindheit vor den eigenen Fehlern. Gute Eltern zeigen den Kindern ihre Fehler und Schwächen auf, in einer liebevollen Weise. Auf diese Weise können wir lernen, mit uns selbst verständig und liebevoll umzugehen. Wir nehmen dann unsere Fehler ernst, werten uns deshalb aber selbst nicht ab, sondern erkennen Fehler als Chancen zum Lernen.

Manchmal beklagt sich jemand, dass er oder sie schon so viel gelernt hat auf dem Weg der Selbstliebe und trotzdem so wenig Liebe von anderen bekommt. Ist das nicht ungerecht und widerspricht das nicht all den Lehren, die besagen, dass man alles zurück bekommt, was man an Liebe sich und anderen gibt?
Darin zeigt sich, dass die Selbstliebe noch nicht voll entwickelt ist, sondern an einem Teil des Egos festhängt und in sich kreist, statt sich nach außen zu entfalten. Die voll ausgereifte „reine“ Selbstliebe würde sagen: Nimm alles im Leben, so wie es kommt, und spüre hinter allem die Kraft der Liebe. Auch wenn dir Schlimmes  begegnet, akzeptiere es mit Gelassenheit, eines Tages wirst du erkennen, dass tief dahinter etwas liegt, was dich im Leben weiterbringt! So kann jede Erfahrung deine Liebesfähigkeit erweitern.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank, Wilfried, für diesen ermutigenden und tiefsinnigen Kommentar zum wichtigen und diffizilen Thema Selbstliebe!
    Elisabeth

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