11.05.2011

Regel 11: Die Unvermeidlichkeit von Schmerzen

The midwife knows that when there is no pain, the way for the baby cannot be opened and the mother cannot give birth. Likewise for a new self to be born, hardship is necessary. Just as day needs to go through intense heat to become strong, Love can only be perfected in pain.

Die Hebamme weiß, dass, wenn es keine Schmerzen gibt, der Weg für das Baby nicht aufgehen kann und dass die Mutter dann nicht gebären kann. Ebenso sind für die Geburt eines neuen Selbst Mühen notwendig. Genau wie ein Tag durch intensive Hitze durchgehen muss, um stark zu werden, kann Liebe nur im Schmerz zur Vollkommenheit finden.

Schauen wir auf die Natur. Sie ist nicht auf Perfektion und Leidvermeidung aufgebaut, sondern darauf, sich dauernd zu verändern und aus den Veränderungen zu lernen, um sich weiterzuentwickeln. Es gibt vermutlich keine Veränderung, die ganz ohne Schmerzen ablaufen kann. Der Same muss seine Schale durchbrechen, um zu einem Grashalm oder zu einer Eiche zu werden. Und wenn er auf steinigen und trockenen Grund fällt, wird er am Mangel leiden und irgendwann absterben. Dennoch geht das Leben weiter und entfaltet aus einer Fülle von Möglichkeiten immer wieder neue Formen. In der Balance zwischen Glück und Schmerz wächst das Leben.

Wenn wir die Weisheit unseres Organismus ernst nehmen, erkennen wir immer wieder , wie Schmerzen Teil des Lebensprozesses sind. Es gibt kein schmerzfreies Leben, weder bei uns Menschen noch bei allen anderen fühlenden Wesen. Die Schmerzempfindung ist wohl (neben oder verbunden mit der Angstempfindung) eine der frühesten Errungenschaften der Evolution bei der Höherentwicklung der Lebewesen. Wie die Lebensformen im Verlauf der Evolution komplexer werden, wird auch die Schmerzempfindung vielschichtiger. Wir können Gelenksschmerzen haben, oder Gemütsschmerzen, Phantomschmerzen und Beziehungsschmerzen. Je nach Sensibilität tut uns Vieles und Verschiedenes weh, woran wir immer wieder erkennen, dass das Leben nicht perfekt ist.

Wir finden Schmerzen unangenehm und wollen sie vermeiden. Natürlich, wer will schon leiden. Und unser Organismus ist auf dieses Vermeiden programmiert: Wenn es zu heiß wird, zucken wir zurück. Er will uns aber auch zeigen, dass es Probleme gibt: Schmerzen weisen auf etwas Gefährliches hin oder signalisieren, dass etwas nicht in Ordnung ist, oder dass sich etwas umstellt und neu ordnet. Wenn der Zahn weh tut, müssen wir zum Arzt.

Da kommt unser Verstand an und wünscht sich ein perfektes, sprich schmerzfreies Leben geben muss. Wir müssen nur alle Quellen von Schmerzen eliminieren: Fehler an unserem Körper (Operationen müssen her), Störungen im Nervensystem (Painkiller müssen her), nervende Mitmenschen (für die müssen Therapien her), übermäßige Steuern (bessere Politiker müssen her) usw.

Da aber trotz aller Bemühungen immer wieder neue Schmerzquellen auftreten, klagt der Verstand schließlich das größere Ganze an, das irgendeinen Fehler in der Regie des Menschseins eingebaut haben muss: Der Regisseur ist schuld an der Misere. Wieso soll ich dauernd an deinem Missmanagement leiden? Du hättest es ja in der Hand, es so einzurichten, dass mir nichts mehr weh tut, aufregt oder stört. Aber du tust es nicht.

Oben steht die Antwort auf diese so typisch menschliche Anklage. Willst du wachsen, musst du Schmerzen erdulden. Selbst wenn du bloß darauf verzichtest und als menschliches Gemüse oder Gänseblümchen leben willst, wirst du leiden.

Die gute Nachricht ist: Die Kraft der Liebe ist stärker als der Schmerz, so wie die Kraft des Lebens stärker ist als alle Hindernisse, die sich beim Durchgang durch den Geburtskanal in den Weg stellen. Wächst die Liebe, werden die Leiden geringer. Verfalle aber nicht der Illusion, Schmerzen zu vermeiden und den bequemsten Weg zu suchen – bei der Hintertür kommt das wieder herein, vor dem du die Vordertür gerade zugeschlagen hast.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.


1 Kommentar:

  1. als ich diese Regel das erste Mal gelesen habe, befand ich mich gerade in einer sehr schmerzhaften Zeit. Der Inhalt hat mich sehr berührt, da mir bewusst wurde, dass an der Schwelle zu etwas Neuem - oder auch bei persönlichem Wachstum - Schmerz ein natürlicher Begeleiter ist. Auch heute noch lese ich diese Regel in Umbruchsphasen, die mit Schmerz verbunden sind- um mit bewusst zu machen, dass Schmerz der Vorbote von etwas Neuem darstellt. Um um mir immer wieder mal herzuholen, dass ich die Verantwortung für meine Gefühle selbst trage und nicht allen anderen die Schuld zuschieben soll :-)

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