03.06.2011

Regel 23: Das Leben als Leihgabe

Life is a temporary loan, and this world is nothing but a sketchy imitation of Reality. Only children would mistake a toy for the real thing. And yet human beings either become infatuated with the toy or disrespectfully break it and throw it aside. In this life stay away from all kinds of extremities, for they will destroy your inner balance. Sufis do not go to extremes. A Sufi always remains mild and moderate.

Das Leben ist eine Leihgabe auf Zeit, und diese Welt ist nichts als eine skizzenhafte Imitation der Wirklichkeit. Nur Kinder würden ein Spielzeug mit einem wirklichen Ding verwechseln. Und doch lassen sich die Menschen entweder vom Spielzeug betören oder sie machen es respektlos kaputt und werfen es weg.  Halte dich in diesem Leben fern von allen Arten des Extremen, weil sie dein inneres Gleichgewicht zerstören werden. Sufis gehen nicht in die Extreme. Ein Sufi bleibt immer sanft und maßvoll.

Der erste Halbsatz dieses Zitats relativiert vieles, was wir als selbstverständlich annehmen: Das Leben haben wir bekommen und wir nehmen es und machen daraus, was wir wollen. Was könnte es bedeuten, wenn uns das Leben nur geliehen wäre? 

Zunächst heißt leihen, dass das Leihgut zurückgefordert werden kann, wann immer der Leihgeber es will. Das Ende der Leihe ist also nicht in unserer Hand. Das vergessen wir gerne. Weiters bedeutet es, dass wir auf diese Leihgabe gut achten müssen, also sorgsam mit ihr umgehen sollten, um sie gut erhalten wieder zurückgeben zu können. Denn wir sind dem Leihgeber zur Dankbarkeit verpflichtet, solange er uns diese Gabe überlässt. 

Zur achtsamen Pflege dieses Lebens, das uns anvertraut wurde, gehört, dass wir das Wachsen unseres Bewusstseins aktiv fördern. Das besteht vor allem darin, dass wir uns unserer inneren Wirklichkeit stellen, um zu dem zu finden, was wir wirklich sind. Damit lernen wir immer wieder neue Facetten dessen kennen, was uns überlassen wurde, und können immer mehr daraus machen. Wir ehren das Leben am besten dadurch, dass wir es zu einem Kunstwerk werden lassen, indem wir die Talente, die uns gegeben wurden, kreativ zur Entfaltung bringen. Schließlich können wir dann, wenn die Zeit gekommen ist, die Leihgabe wieder zurückgeben, bereichert um das, was wir ihr an Blüten hinzugefügt haben. 

Wenn wir die Entfaltung unseres Lebens allerdings vorrangig als Anhäufung von Gütern und anderen Dingen sehen, kommen wir der Wirklichkeit nicht näher. Dazu treibt uns die Angst, die uns suggeriert, dass uns die Dinge Sicherheit bieten können. Damit überantworten wir uns der Sphäre der Objekte. Insgeheim wissen wir, dass uns die Dinge nicht von den Ängsten befreien und glücklich machen können. Im Gegenteil, je mehr wir schon haben, desto mehr merken wir, was uns noch fehlt. Die Spirale der Gier schraubt sich von selber, fast ohne unser Zutun weiter. Wir haben uns damit der Macht der Dinge und ihrer immanenten Logik anvertraut, die sich aus unserem Habenwollen speist. 

Das ist das Szenario einer entfremdeten Wirklichkeitserfahrung. Das ist die Zerrskizze der Wirklichkeit, die sich in opulenten Einkaufszentren und anderen Konsumpalästen widerspiegelt. Es ist auch dieses Verkaufen der Seele an die Welt der Dinge, die uns aus der inneren Balance wirft. Die innere Wirklichkeit entfernt sich immer weiter von uns, während wir dem Erfolg und der Selbstbestätigung nachlaufen. Fasziniert von der Fülle an Glücksangeboten im Spielzeugladen der Konsumgesellschaft vergessen wir, was der Sinn unserer Leihgabe ist. So lebt uns ein von Marktmechanismen programmiertes Leben, statt dass wir es selber lenken, mal geht es steil nach oben, mal wirft es uns tief hinunter. Da wir denken, dass es diese Umstände sind, die unser Leben bestimmen, machen wir sie dafür verantwortlich, wenn es abwärts geht.

Die Weisheitslehrer, Mystiker und Propheten reden sich seit Jahrtausenden den Mund fusselig, um die Menschen aus diesen Irrwegen zu befreien. Gegenläufig dazu wächst ein Wirtschaftsapparat, der diese Verführungen ins Zentrum seiner Bemühungen gestellt hat. Doch können wir auch darauf vertrauen, dass in diesem Spannungsfeld das individuelle und kollektive Bewusstsein wächst und über die Beengungen und Zwänge hinausstrebt. In dem Maß, wie wir die Versprechungen der Warenwelt als Vorspiegelungen durchschauen, wandeln wir unsere Bedürfnisse und wandeln damit auch das System, das sich auf diese Bedürfnisse stützt. Wir lassen uns nicht mehr von vorgeprägten Begierden kontrollieren, sondern folgen den Rufen, die aus tieferen Schichten in uns und um uns herum kommen und unser eigentliches Sein zum Ausdruck bringen wollen. 

Wir suchen auf diesem Weg die Übereinstimmung mit unserem Wesen und zugleich mit der Welt, in der wir leben. Wir stimmen uns also auch ein auf die Kultur und deren Wachstum und wirken daran mit, sodass die Welt als Ganze mit jedem Stück, das wir wachsen, mitwächst und sich weiter entwickelt.

Das Gefühl, das wir in uns spüren, wenn wir uns in dieser Sphäre der Übereinstimmung befinden, ist die Gelassenheit und der Gleichmut des Weisen. In dieser Stimmung brauchen wir dann keine Extreme mehr, sondern bleiben in unserer Mitte und mit unserer Mitte verbunden.

* * *
Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen