18.06.2011

Regel 30: Das Ende der Beschuldigung

The true Sufi is such that even when he is unjustly accused, attacked and condemned from all sides, he patiently endures, uttering not a single bad word about any of his critics. She/he never apportions blame. How can there be opponents or rivals or even “others” when there is no “self” in the first place? How can there be anyone to blame when there is only One?

Der wahre Sufi ist so, dass er, auch wenn er ungerechter Weise von allen Seiten angeklagt, angegriffen und verdammt wird, geduldig aushält und kein einziges schlechtes Wort über seine Kritiker äußert. Er/sie misst niemandem Tadel zu. Wie kann es Gegner oder Rivalen oder sogar „Andere“ geben, wenn es von vornherein überhaupt kein „Selbst“ gibt? Wie kann jemand beschuldigt werden, wenn es nur das Eine gibt?

Der/die Weise zeigt den Menschen den Weg zum holistischen Bewusstsein. Dort gibt es keine Beurteilungen und Abwertungen mehr. Um diesen Zustand zu erwerben, braucht es nicht nur Geduld, eine dicke Haut, eine besondere Leidensfähigkeit oder ein Zurückhalten der eigenen Aggressionen. Es geht um eine Bewusstseinswandlung, die nichts mit emotionaler Disziplin zu tun hat, sondern mit einer Weitung über die eigene Persönlichkeit hinaus.

Deshalb brauchen solche außergewöhnliche Menschen auch keine Bewunderung. Sie verdienen es, nachgeahmt zu werden, aber eben nicht oder nicht nur im Aushalten, sondern im inneren Wachsen. Dieses kann nicht allein durch Training und beständiges Üben erlangt werden. Es ist das Nebenprodukt einer bewussten und achtsamen Lebensführung.  Die Weitung des Menschen geschieht in dem Maß, in dem es ihm möglich wird, mehr und mehr Aspekte, Details und Spielarten der Welt einzuschließen, als das „Eigene“ zu erkennen, eben als ein Eigenes, das einem nicht gehört, sondern zu dem man gehört. 

Wir erkennen, realisieren, dass wir Mitglieder sind in einem großen Ganzen, die Welt genannt. All die witzigen Gestalten, die sich darin aufhalten, all die Skurillitäten und Absurditäten, all die bösen und schlechten, die netten und guten Geschehnisse sind die anderen Mitglieder dieses Panoptikums. Wir sind miteinander verbunden, wir spielen mit im selben Spiel. Die anderen spielen die Rollen, die wir selber nicht so gut ausfüllen können.
An einem Beispiel: Der andere spielt die Rolle des Bösewichts, er repräsentiert unsere bösen Anteile, die in unserem Schatten liegen. So begegnen wir diesem Aspekt von uns selbst, wenn wir auf jemanden stoßen, der uns oder anderen Böses antut. Wenn wir ihn dafür aburteilen, tun wir das mit uns selbst. Zum Beispiel behandelt uns jemand respektlos. Diese Person macht uns auf unsere eigenen Tendenzen zur Respektlosigkeit aufmerksam. Verurteilen wir die andere Person dafür, verurteilen wir uns selbst für unsere eigenen Respektlosigkeiten. 

Natürlich heißt das nicht, dass wir Böses nicht als solches benennen dürfen und uns nicht dafür einsetzen können, es zu verhindern oder zu unterbinden. Wir müssen das tun, um unsere Umgebung wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wenn eine Entgleisung passiert ist. Wir sollten uns dabei aber auch bewusst sein, dass es etwas mit uns selbst zu tun hat, was wir da anklagen, und dass wir uns persönlich nicht über diesen Menschen erheben dürfen im Sinne von  - ich bin der bessere Mensch, weil nicht ich diesen Fehler begangen habe. Alle Menschen haben Schattenbereiche, das ist eine strukturelle Eigenschaft unserer komplexen Natur. 

Wir vermeinen zwar leicht, dass wir selber nichts Böses an uns haben, wenn wir es im Außen wahrnehmen. Aber in Wirklichkeit stärken wir unsere böse Seite, sobald wir auf Böses mit Bösem reagieren. Wollen wir diese Seite in uns dagegen schwächen, gilt es, sie als Schatten anzuerkennen und anzuschauen und sie damit ins Licht zu bringen. Wenn wir sie in unserem Inneren umarmen können, weil sie Teil von uns ist, wird es uns eines Tages gelingen, sie auch im Außen zu umarmen, weil uns da nichts anderes als ein lange ungeliebter Teil von uns selbst begegnet ist. 

Jemand sagt vielleicht: Ich bin doch nicht böse. – Du bist ein Mensch, und es wäre ein Wunder, wenn dir nichts Böses in den Sinn käme. Selbst wenn dem so wäre, gibt es etwas anderes an dir, was unvollkommen und verbesserungswürdig ist. Menschsein heißt, unvollkommen zu sein und zugleich um die Vollkommenheit zu wissen. Die Vollkommenheit ist nur eine Idee, auf die hin wir uns bewegen wollen, weil wir an unseren Unvollkommenheiten leiden. Wir können sie aber nie erreichen, jede neue Erfahrung, die uns das Leben bietet, kann wieder etwas sein, woran wir wachsen. Vollkommenheit würde das Ende des Wachsens und Lernens bedeuten, und damit das Ende des Lebensprozesses.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen

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