26.06.2011

Regel 34: Unterordnung und Hingabe


Submission does not mean being weak or passive. It leads to neither fatalism nor capitulation. Just the opposite. True power resides in submission – a power that comes from within. Those who submit to the divine essence of life will live in unperturbed tranquility and peace even when the whole wide world goes through turbulence after turbulence.

Unterordnung heißt nicht, schwach oder passiv zu sein. Sie führt weder zu Fatalismus noch zur Kapitulation. Ganz im Gegenteil. Wirkliche Macht ruht in der Unterordnung – eine Macht, die von innen kommt. Diejenigen, die sich der göttlichen Essenz des Lebens unterordnen, werden in unbeirrter  Beschaulichkeit und ungestörtem Frieden leben, auch wenn die ganze weite Welt eine Turbulenz nach der anderen durchmacht.

Unterordnung klingt fast wie eine Beleidigung und Demütigung für den aufgeklärten Geist. Er opponiert sofort und sagt: Niemals werde ich mich irgendjemandem unterwerfen. Niemals werde ich eine Macht über mir anerkennen. Immanuel Kant hat der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen,“ an die Fahnen geheftet. Und weiter: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. ... Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.” 

Wer sich seines Verstandes bedient, braucht niemanden über sich, er ist frei. Er entwirft seine eigenen Grundsätze und Werte und folgt ihnen. Er tut nur, was ihnen entspricht und kämpft gegen alles, was ihnen entgegensteht. Dazu ist Mut erforderlich, denn eine Autorität, der man sich anvertraut, gibt auch Sicherheit und Schutz. Der moderne Mensch des personalistischen Bewusstseins ist auf sich gestellt und für sich selbst verantwortlich. In der Abenddämmerung, nachdem die Welt in Ordnung gebracht wurde, reitet er der untergehenden Sonne entgegen. (Oder setzt sich vor die Tastatur und schreibt seine Blogs).

Soweit das Idealbild des unabhängigen Menschen, der sich von den Fesseln mittelalterlicher Denkweisen und Sozialformen befreit hat. Die Realität schaut in vielen Bereichen anders aus, dauernd müssen wir uns mit anderen abstimmen, da und dort Abstriche machen und Kompromisse eingehen. In der Welt, die an Komplexität immer mehr zunimmt, werden die wechselseitigen Abhängigkeiten immer komplexer und schwerer durchschaubar.

Im Getriebe der unterschiedlichsten sozialen Netzwerke wird schließlich auch fraglich, was denn dieser eigenwillige Verstand, dessen wir uns bedienen sollen, eigentlich noch sein kann. Ist er mehr als ein Denkprozessor, der eingespeiste Informationen filtert und daraus andauernd sich verändernde Konstruktionen über sich selbst und über die Welt produziert? Gibt es einen archimedischen Punkt hinter all diesen Produktionen, der sie zusammenhält, also ein „Ich denke, also bin ich“? Ist dieses Ich, der Angelpunkt des modernen Menschen, nach all den Katastrophen und Umwälzungen, die zur Postmoderne führten, überhaupt noch eine relevante Größe oder doch nur ein mühsam zusammengezimmertes Konstrukt? Klammern wir uns verzweifelt an unserem Ich an wie die mittelalterlichen Menschen an die Segenskraft eines Splitters aus dem Kreuz Christi?

Unser Bewusstsein ist aus den unterschiedlichsten Schichten zusammengebaut. Keine kann die Priorität über den anderen behaupten. Doch schreiten wir fort in unserer Erforschung, wenn wir eine Zusammenschau wagen und anerkennen, dass uns manchmal die älteste Ebene der Menschheit umtreibt und ein anderes Mal die noch kaum fassbare Welt des universalistischen Bewusstseins. Manchmal bedienen wir uns unseres Verstandes mit mehr oder weniger Erfolg, manchmal bewegen wir uns ohne Ich in der Welt, manchmal funktionieren wir in Unterordnung unter Systeme, die wir nicht beeinflussen können oder wollen.  Wachsen in Bewusstheit heißt dann, wahrzunehmen, auf welcher Bewusstseinsebene wir uns gerade befinden. Dann wird uns auch deutlicher, welche Wahrnehmungs- und Handlungsalternativen uns zur Verfügung stehen, wenn wir das Gefühl haben, nicht zu wissen, wie es weiter gehen soll.

Die Meister der Weisheit machen uns mit der Welt des weitesten und freiesten Bewusstseins, das Menschen möglich ist, bekannt und zeigen uns auf, wie wir dorthin gelangen können. So müssen wir auf diesem Weg auch unser Konzept von Unterordnung revidieren.  Wir lassen die hierarchischen Prägungen von Über- und Unterordnung hinter uns und machen uns von ihren Implikationen frei. Wir weiten den Blick über die menschlichen Versuche hinaus, eine taugliche soziale Ordnung zu errichten, und gelangen zur Lebenskraft, die hinter, unter und in all diesen Versuchen wirksam ist. Sie ist mächtiger als unsere individuellen und kollektiven Bemühungen und sie übersteigt das Fassungsvermögen unseres Verstandes. 

Wir können erklären, so viel wir erklären können, und sollen auch alles, was noch nicht erklärt wurde, erklärbar machen. Dazu nutzen wir unseren Verstand. Und wir können seine Grenzen anerkennen. Es gibt Bereiche unseres Bewusstseins, die nicht erklärbar sind und keine Erklärung brauchen, weil sie, obwohl sie unmittelbar einleuchtend sind, nicht in Worte gefasst werden können. 

Dazu gehört der Bereich, in den wir eintreten, wenn wir uns mit dem inneren Frieden verbinden. Es gibt diesen Ort, den wir z.B. am Ende eines tief entspannten Ausatems, versunken in einem Musikstück oder in der Betrachtung der Natur finden können. Dort herrscht Friede und Gleichmut jenseits des Chaos unserer Lebenswelten. Dann sind wir selber mit unserem Wollen und Nichtwollen, unserer Bedürftigkeit und Ängstlichkeit, nicht mehr wichtig. Dann sind wir ganz dem Größeren hingegeben, das uns trägt und für uns sorgt. Dann geben wir dem die Ehre, das uns leben lässt, von Moment zu Moment.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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