18.06.2011

Regel 31: Die Weichheit des Herzens

If you want to strengthen your faith, you will need to soften inside. For your faith to be rock solid, your heart needs to be as soft as a feather. Through an illness, accident, loss or fright, one way or another, we are all faced with incidents that teach us how to become less selfish and judgemental and more compassionate and generous. Yet some of us learn the lessons and manage to become milder, while some others end up becoming even harsher than before. The only way to get closer to the Truth is to expand your heart so that it will encompass all humanity and still have room for more Love.


Wenn du deinen Glauben stärken willst, wirst du dich innerlich weicher machen müssen. Damit dein Glaube fest wie ein Fels sein kann, muss dein Herz so sanft wie eine Feder sein. Durch eine Krankheit, einen Unfall, Verlust oder Schrecken sind wir alle so oder so mit Vorfällen konfrontiert, die uns lehren, wie wir weniger selbstsüchtig und verurteilend und dafür einfühlsamer und großzügiger werden können. Doch gibt es die einen unter uns, die die Lektionen erlernen und es schaffen, milder zu werden, während einige andere noch verhärteter werden als zuvor. Der einzige Weg, um der Wahrheit näher zu kommen, ist, dass du dein Herz  ausdehnst, sodass es die ganze Menschheit umfassen wird und noch immer Platz hat für mehr Liebe.

Ein starker Glaube bedeutet ein tiefes Vertrauen in das Leben. Das Leben bereitet uns viele Herausforderungen und macht es uns manchmal leichter, manchmal schwerer. Doch es geht weiter, beständig weiter, wie das Fließen unseres Atems. Unser Atem spiegelt dieses Leben, ob es sich gerade in einem ruhigen und harmonischen Bereich bewegt oder ob die Gewässer turbulent und aufgewühlt sind. Wenn wir uns auf den Atem besinnen, können wir spüren, dass er fließt und fließt, auch wenn es manchmal ein aufgeregtes oder hektisches Fließen ist. Dem Atem zu vertrauen, heißt dem Leben zu vertrauen, das ist die Grundlage des Glaubens.


Über den Atem können wir lernen, dieses Fließen nicht nur ruhiger, sondern auch weicher und sanfter zu machen. Wir stellen uns dabei vor, dass der Atem ganz zart das Herz umströmt und einhüllt. Dann weiten wir den Raum, den das Herz einnimmt, und dehnen es über unsere Person aus, vor allem zu Menschen hin, die besonders der Weichheit bedürfen. Sie sind nicht aus böser Absicht, Dummheit oder Faulheit so, wie sie sind, sondern weil sie das Leben dazu geformt hat, wie ein Stein am Grund des Flusses die Form durch die Kraft des Wassers bekommen hat und nicht gefragt wurde, ob er sie gerne so oder anders hätte.
Wenn wir unser Herz ausdehnen, spüren wir, dass es da keine Grenze gibt, sondern dass unser Herz alle anderen Herzen erreichen möchte, sich mit ihnen verbinden möchte. Es ist dann so, als würde die ganze Schöpfung auf den Moment warten, dass sich alle Herzen verbinden und einen gemeinsamen Rhythmus finden. 


Was uns hart macht, sind vor allem unsere Tendenzen, Macht auszuüben, Recht zu behalten und nur unsere eigenen Interessen zu verfolgen. Dahinter steckt immer ein Antrieb aus Angst. Wir meinen, dass wir kämpfen müssen, um überleben zu können, bis in die kleinste Streitigkeit hinein, wie der Suppenteller abgewaschen oder die Seife abgelegt werden soll. 


Angst macht uns hart, weil wir meinen, dass wir uns durch Härte schützen können. Doch gibt es fast immer keine reale Bedrohung, vor der wir uns hüten müssten. Wir befinden uns andauernd in einem Kino, indem ein Horrorfilm gezeigt wird, und nehmen die Geschehnisse auf der Leinwand für die Wirklichkeit, so als würde King Kong gleich in den Zuschauerraum steigen und uns an der Gurgel packen. So spannen wir uns unnötig an – ins wirkliche Kino gehen wir ja auch, damit es spannend ist –, und tun unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden nichts Gutes. Wenn wir unsere Härte nicht besiegen, schädigen wir uns nachhaltig.

Das Tao Te King bringt es auf den Punkt:


Der Mensch tritt ins Leben weich und zart, im Tode ist er hart und starr.
Alle Wesen treten ins Leben weich und zart, im Tode sind sie trocken und hart.
Darum ist das Harte und Starre Zeichen des Todes, das Weiche und Schwache Zeichen des Lebens.
Ist das Heer starr und stark, wird es untergehen.
Ist der Baum hart und stark, wird er gefällt werden.
Das Harte und Starke vergeht. Das Weiche und Schwache besteht. (Lao Tse: Tao Te King)


Wir begeben uns in den Dienst des Lebens, wenn wir daran arbeiten, weich zu werden. Das Tao Te King erinnert uns daran, dass wir Weichheit nicht mit Schwäche verwechseln sollten. Eine von Angst gesteuerte Härte verkörpert keine wirkliche Kraft, sondern ein Überspielen der Schwäche. In dieser Position können wir keine klaren Ziele erkennen und keine stimmigen Unterscheidungen treffen. Wir fixieren uns auf Kurzschlüsse und Fehlinterpretationen.

Die Position der Weichheit ist die der Gelassenheit, des Frei-Seins von Druck und Kämpfenmüssen. In den östlichen Kampfkünsten wird gelehrt, aus der Gelassenheit, die eine präzise Wahrnehmung und eine blitzschnelle Reaktion erlaubt, im Kampf den maximalen Erfolg zu erzielen. Auf die anderen Bereiche des Lebens übertragen, heißt das, dass aus der Entspannung die klarste Kraft erwächst, die uns mit der Wirklichkeit so verbindet, dass wir mühelos das Richtige zum richtigen Zeitpunkt wählen.


Doch da geht es Fertigkeiten in der Lebensbewältigung. Der Weg zur Wahrheit bleibt dort nicht stehen, auch jemand, der großen Erfolg im Leben hat, muss deshalb nicht der Wahrheit näher kommen. Gerade, wer sich auf den Erfolg fixiert und von ihm abhängig macht, vermeidet den Blick in die Tiefe seines Herzens. Erfolgsverliebte Menschen haben häufig die Tendenz, statt für ihre Geschenke dankbar zu sein, ihr Herz zu verschließen, aus Angst, dass die Weichheit und das Mitgefühl, das sie dort finden würde, ihre Erfolgsaussichten schmälern könnte.
So bleibt es für den Weg zur Wahrheit gleichgültig, ob ein Leben erfolgreich oder erfolglos verläuft. Dem/der Weisen bedeutet Gewinn ebensoviel wie Verlust. Wenn er/sie in der Lage ist, das Herz so weit zu öffnen, dass es alles auf dieser Welt einschließen kann, findet sich dort alles ohne Unterschied: der Milliardär und die Bettlerin, die Filmdiva und der Straßenbahnfahrer.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen