15.06.2011

Regel 28: Der gegenwärtige Moment ist alles, was es gibt.

The past is an interpretation. The future is an illusion. The world does not move through time as if it were a straight line, proceeding from the past to the future. Instead time moves through us and within us, in endless spirals. Eternity does not mean infinite time, but simply timelessness. If you want to experience eternal illumination, put the past and the future out of your mind and remain within the present moment. The present moment is all there is and all that there will ever be.   

Die Vergangenheit ist eine Interpretation. Die Zukunft ist eine Illusion. Die Welt bewegt sich nicht durch die Zeit als wäre sie eine schnurgerade Linie, die sich von der Vergangenheit in die Zukunft bewegt. Statt dessen bewegt sich die Zeit durch uns hindurch und in uns drinnen, in endlosen Spiralen. Ewigkeit bedeutet nicht unendliche Zeit, sondern einfach Zeitlosigkeit. Wenn du die ewige Erleuchtung erfahren willst, verbanne die Vergangenheit und die Zukunft aus deinem Verstand und bleibe innerhalb des gegenwärtigen Moments. Der gegenwärtige Moment ist alles, was ist gibt und alles, was es je geben wird.


Alles, was wir erleben, erleben wir in diesem Moment, im Jetzt. Das Jetzt ist definiert durch dieses Erleben. Es ist nichts anderes als dieses Erleben dessen, was jetzt gerade ist. Die Vergangenheit ist das, was wir nicht mehr erleben können, weil es nicht im Jetzt ist. Ebenso verhält es sich mit der Zukunft.

Wir holen uns gerne die Vergangenheit in die Gegenwart, indem wir uns erinnern. Unsere Erinnerung macht ein Bild aus der Vergangenheit, das durch alle möglichen Einflüsse gefärbt und retuschiert wird. Manchmal „erinnern“ wir uns sogar an Ereignisse, die es nie gegeben hat. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Berichte von Überlebenden des englischen Bombenangriffes auf Dresden im Jahr 1945, der einigen Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat. Viele Überlebende berichten von Tieffliegerangriffen, die sie miterlebt hätten, und schildern genau die Typen der Flugzeuge und die Schäden, die sie angerichtet haben. Es ist jedoch durch die historische Forschung zweifelsfrei bewiesen, dass es solche Angriffe nicht gegeben hat.

Deshalb sollten wir uns immer bewusst halten, dass uns die Vergangenheit nur als Konstruktion zugänglich ist, als Produkt unseres Erinnerungsvermögens, und dass sie keine andere Realität als diese hat. Wir brauchen die Vergangenheit, um uns unserer Identität zu vergewissern und um uns auf unsere Umgebung verlassen zu können. Wir müssen nicht alles in jedem Moment neu erfinden oder entdecken. Doch entgeht uns der Zauber des Moments, wenn wir am Vergangenen festhalten und uns immer wieder darin hineinversenken.

Auch die Zukunft muss sich dem Primat der Gegenwart beugen. Wir erschaffen die Zukunft aus unserer Phantasie, die von Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten geprägt ist. Ohne Zukunft könnten wir nichts planen und organisieren. Freilich ist die Zukunft nie in unserer Macht, immer kann ein unerwartetes Ereignis unsere Planungen über den Haufen werfen. Deshalb müssen wir auch hier immer eine gute Balance halten, zwischen den Träumen von der Zukunft und der realen Erfahrung in der Gegenwart.

Die Zeitlinie stellt auch eine Konstruktion dar, bzw. ein Konstruktionsprinzip, also ein Raster, nach dem wir das Zeiterleben strukturieren können. Natürlich hat die Zeit keine räumliche Form. Die Zeitlinie ermöglicht effektives Planen, wie bei einem Hausbau, bei dem die einzelnen Handwerker in einem Verlaufsprozess eingeordnet sind und genau wissen, wann ihre Arbeiten stattfinden sollen. Sie ermöglicht auch, die Zeit zu messen und zu quantifizieren.

Die Messbarkeit der Zeit gibt uns die Illusion der Beherrschbarkeit, der Macht über sie. In Wirklichkeit haben wir natürlich keine Macht über die Zeit, sondern sie beherrscht uns. Sie läuft weiter und weiter, ob wir das wollen oder nicht. Manchmal möchten wir die Zeit anhalten (nach dem Motto des greisen Faust: „Verweile, Augenblick, du bist so schön“), manchmal möchten wir die Zeit antreiben, damit etwas Unangenehmes schnell vorbeigeht oder etwas Ersehntes bald eintritt. Doch meist schlägt uns die Zeit ein Schnippchen: Wenn sie verweilen soll, vergeht sie umso schneller, wenn wir aufs Christkind warten, schleicht sie unendlich langsam dahin. Deshalb sind wir oft „böse“ auf die Zeit: Sie ist uns zu wenig oder zuviel, aber nie richtig.

Die einzige Möglichkeit, wie wir uns dieser Herrschaft entziehen können, ist, dass wir im Moment bleiben, d.h. von Moment zu Moment präsent sind. Das ist eine Fähigkeit, die nur wenigen Menschen zur Verfügung steht, der wir uns jedoch annähern können, vor allem durch die meditative Übung des Präsentbleibens, z.B. durch die Achtsamkeit auf den Atem. Dann verliert die Zeit an Wichtigkeit und wir versöhnen uns mit ihr. Wir anerkennen eine Dimension, die nicht unserem Zugriff unterliegt und übergeben uns damit wirklich der Zeit, ohne der Illusion, ihrer habhaft werden zu können.

Wenn wir uns die Zeit als Spirale in uns vorstellen, sind wir natürlich  ebenfalls in einer räumlichen Vorstellung. Diese vermittelt uns jedoch ein Bild, das uns auf uns selber bezieht – wie wir als bewusste Wesen weiterschreiten, jeden Moment bewusst erlebend, ohne ihn auf etwas Vergangenes oder Zukünftiges zu beziehen. Wir sind nicht eingespannt zwischen Altem und noch nicht Gewesenem, sondern sind in dem, was wirklich ist. Die Bewegung in der Zeit führt uns nicht weg von uns selbst, sondern näher zu dem, was wir wirklich sind.

Ewigkeit ist dieser Moment, in den ich mich fallen lassen kann.

Und wenn ich noch mehr Zeit hätte, könnte ich noch mehr über die Zeit schreiben....

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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