22.06.2011

Regel 32: Gott als Führer auf dem Weg nach innen

Nothing should stand between yourself and God. Not imams, priests, rabbis or any other custodians of moral or religious leadership. Not spiritual masters, not even your faith. Believe in your values and your rules but never lord them over others. If you keep breaking other people’s hearts, whatever religious duty you perform is no good. Stay away from all sorts of idolatry, for they will blur your vision. Let God and only God be your guide. Learn the Truth but be careful not to make a fetish out of your truths.   

Nichts sollte zwischen dir und Gott stehen. Keine Imame, Priester, Rabbis oder andere Wächter einer moralischen oder religiösen Führerschaft. Keine spirituellen Meister, nicht einmal dein Glaube. Glaube an deine Werte und Regeln, aber verordne sie nie anderen. Wenn du immer wieder das Herz der anderen Menschen brichst, tust du nichts Gutes, gleich welche religiöse Pflicht du erfüllst. Halte dich von jeder Form von Götzendienst fern, weil das deine Vision eintrüben wird. Lass Gott und nur Gott dein Führer sein. Erlerne die Wahrheit, aber achte darauf, kein Fetisch aus deinen Wahrheiten zu machen.


Die Forderung nach einem direkten Kontakt zwischen Mensch und Gott ist vermutlich so alt wie die Kirche und durchzieht ihre ganze Geschichte. Es gibt sie in den verschiedenen religiösen Richtungen und hat zu Aufständen, Kriegen und Kirchenspaltungen geführt. Immer wieder erkennen die Menschen: Kein beamteter Vertreter des Göttlichen soll sich in den Kontakt mit Gott einmischen oder gar ihn vermitteln.

Das hierarchische Bewusstsein hat die Trichtertheorie erfunden: Gott gießt seine Weisheit in die Engel, diese geben sie weiter an die Bischöfe, diese an die Priester, und das, was dann bei den einfachen und unheiligen Menschen ankommt, ist nur mehr ein Bruchteil des ursprünglich Ausgegossenen. Jede Instanz auf der Stufenleiter von oben nach unten hat einen eigenen Filter, der wegnimmt, wovon er annimmt, dass den Unteren bestimmte Weisheiten vorenthalten werden müssen.

Damit wurden und blieben die Menschen entmündigt und die Religionen konnten sich als Herrschaftsinstrumente etablieren. Was Menschen glauben sollten, wurde vorgeschrieben, und wer davon abwich, wurde den grausamen Elementen des Machtapparates überantwortet. Denn abweichende Glaubensrichtungen mussten als Bedrohungen des Machtmonopols gewertet werden. Die Diskussion und Weiterentwicklung der Lehre konnte damit nur in eng gesetzten Grenzen erfolgen, ohne wirklich jemals aufzublühen. Zu viele kritische Fragen und Reflexionen waren verboten.

Das personalistische Bewusstsein revoltiert gegen solche Bevormundungen und Begrenzungen. Es wird als Frechheit empfunden, wenn ein Amt zu einem Vorrecht an Weisheit verhelfen sollte. Ämter werden durch Andienen an den Machtapparat und seine Gesetzmäßigkeiten erworben, also durch geeignete Verhaltensweisen der Unterordnung. Wer richtig buckelt, kommt nach oben und sorgt dort vor allem dafür, dass wieder richtig gebuckelt wird. Deshalb verbürgt die Innehabung eines Amtes für hierarchische Intelligenz und für sonst nichts.

Weisheit dagegen wird nicht innerhalb von Machtapparaten erworben. Weisheit ist eine wilde Pflanze, die nicht in geordneten und gezähmten Gärten gedeiht. Sie wird oft von Außenseitern erkundet und verkündet. Viele Propheten, Heilige und Erneuerer berichten von direkten Gotteserfahrungen, oft in der Natur und meist in der Abgeschiedenheit. Sie weisen darauf hin, dass Gott nicht durch die Instanzen und Ämterketten spricht, sondern sich seine eigenen Wege in die Herzen der Menschen sucht. Der Glaube verträgt keine Verwaltung, wie ein wildes Tier keinen Käfig überlebt. Der Glaube liebt das Risiko und fordert zum Risiko heraus.

Also ist das Leben abseits und jenseits der Institutionen schwerer und unsicherer. Die Zweifel sind mächtiger, da die Wahrheit gesucht werden muss und nicht einfach in einem heiligen Buch nachzulesen ist oder von einem bestallten Prediger übernommen werden kann. Und jede dieser Wahrheitssuchen ist individuell, ich kann mir von niemandem abschauen, wie man es macht. Ich finde keine Vorbilder für meinen Weg, weil er anders ist als jeder anderer. Ich finde vielleicht Menschen, die mir gute Hinweise geben, indem sie mich darauf hinweisen, wenn ich in die Irre laufe, aber sie können mir nicht sagen, was die nächsten Schritte sind und wann ich ein Ziel erreicht habe.

Einerseits muss ich diesen Weg alleine gehen, andererseits kann ich ihn nicht alleine gehen, denn ich brauche meine Mitmenschen als Wegweiser, Korrektiv und als Begleiter. Ich kann mich leicht in mir selber verirren, indem ich meine Vorurteile und Projektionen für die Wahrheit halte. Dazu brauche ich das Feedback der anderen, das sie mir verbal mitteilen oder das ich indirekt durch Erfahrungen serviert bekomme, die mir zu schaffen machen.

Dieses Spannungsfeld dient dazu, dass ich meine Neigungen zurück stellen kann, meine Erkenntnisse zu verallgemeinern, wie das im verwalteten Wahrheitsapparat geschieht: Was gut und wahr ist für mich, muss es für alle anderen auch sein. Wer meinen Glauben teilt, ist mit mir, alle anderen sind gegen mich. Vielmehr erkenne ich, dass sich meine Wahrheiten in der produktiven Auseinandersetzung mit meinen Mitsuchern dauernd verändern, erweitern und differenzieren.

Der verinnerlichte Machtapparat, der die Menschen zu Glaubenskämpfern, Eiferern und Fanatikern werden lässt, zerbricht an der Bereitschaft, die Spannung zwischen individueller Suche und kollektiver Abstimmung auszuhalten. Machtbeteiligung und Machtstreben wird ersetzt durch kreatives und kommunikatives Wachsen im Glauben. Darin schult sich das Bewusstsein für die systemische Ebene und schafft dort die gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen für die Öffnung zu den letzten Wahrheiten und tiefsten Erkenntnissen.

Im systemischen Glaubenspanorama existiert eine Vielzahl von Wahrheitsperspektiven und Wertsetzungen und alle werden miteinander in Verbindung gesetzt. Keine existiert unabhängig und losgelöst von einer anderen, keine hat einen absoluten Platz und keine steht unbeachtet in einem Winkerl. In diesem Feld können alle Glaubensrichtungen voneinander lernen und miteinander wachsen. Jede wird in ihrer Eigenart und in ihrem besonderen Beitrag geschätzt. Keine kann einen Primat über die anderen beanspruchen.

Wenn diese Atmosphäre aufbereitet ist, sollte es immer mehr Menschen gelingen, in die holistische Ebene vorzudringen. Sie braucht keine Götzen mehr, sondern ermöglicht die freiste Sicht auf das, was die innerste Wahrheit und die klarste Erfahrung von Gott ist. Damit breitet sich der Friede aus auf dieser Welt.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com. 
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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