26.06.2011

Regel 35: Das polare Denken, die Gegensätze und Widersprüche

In this world, it is not similarities or regularities that take us a step forward, but blunt opposites. And all the opposites in the universe are present within each and every one of us. Therefore the believer needs to meet the unbeliever residing within. And the unbeliever should get to know the silent faithful in him. Until the day one reaches the stage of being the perfect human being, faith is a gradual process and one that necessitates its seeming opposite: disbelief.

In dieser Welt sind es nicht die Ähnlichkeiten oder Regelmäßigkeiten, die uns einen Schritt weiter bringen, sondern die schroffen Gegensätze. Und all die Gegensätze im Universum sind in jedem einzelnen von uns enthalten. Deshalb muss der Gläubige den Ungläubigen treffen, der in ihm wohnt. Und der Ungläubige sollte den stillen Glaubenden in sich finden. Bis zu dem Tag, an dem jemand die Seinsstufe des vollkommenen Menschenwesens erreicht, ist der Glaube ein schrittweiser Prozess und einer, der sein scheinbares Gegenteil benötigt: Unglaube.

Die Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten sind die Charakteristika der Natur. Keine Blume gleicht der anderen, doch sind sie alle ähnlich. Kein Frühling ist wie der andere, doch kommt er jedes Jahr mit Verlässlichkeit. Es gibt in der Natur auch kein Entweder/Oder, sondern Veränderungen von einem Zustand in den nächsten. Graduell verändert sich das Wetter von Sonnenschein auf Gewitter, stufenlos gleitet der Tag in die Nacht über.
Die Gegensätze sind Charakteristika des menschlichen Denkens. Möglicherweise beruht dieses Denken auf der in Lebewesen tief verankerten Dualität von Kampf und Flucht im Fall einer Todesbedrohung. Blitzschnell muss zwischen zwei Möglichkeiten entschieden und alle Kraft in das Gewählte investiert werden. Das heißt, dass das Denken in Gegensätzen der Angst verpflichtet ist und von ihr gesteuert wird. 

Durch unser Denken jedenfalls haben wir die Möglichkeit, zu allem und jedem ein Gegenteil zu finden. Es genügt das Wort „nicht“ oder die Vorsilbe „un-„, um etwas in sein Gegenteil zu verkehren. Mit Hilfe dieses Schlüssels können wir im Denken alles her- und wieder wegdenken.  Er hilft uns auch, unser Denken zu radikalisieren und damit radikalen Handlungen Vorschub zu leisten, nach dem Motto: „Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Oder: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Vom Terrorregime der Jakobiner während der Französischen Revolution bis zur Achse des Bösen nach einem amerikanischen Kriegspräsidenten steckt hinter vielen Grausamkeiten und menschenverursachten Zerstörungen dieser einfache Operator unseres Denkens.
Auch und gerade in den Belangen des Glaubens und der Religion wurde und wird dieser Operator mit großem Eifer angewendet. Menschen glauben, in Sachen des Glaubens besonders radikal vorgehen zu müssen, weil es ja um die Grundbedingungen unserer Existenz geht. Vom Glauben hängt ab, ob mein Leben einen Sinn hat oder nicht, ob es mit dem Tod endet, ob es ein Jenseits gibt usw. Wenn jemand einen anderen Glauben vertritt, stellt das meinen Glauben in Frage, und eine einfache, oft praktizierte Möglichkeit, mit solchen Verunsicherungen umzugehen, besteht darin, dem Andersgläubigen den Schädel einzuschlagen und damit das Problem aus der Welt zu schaffen. 

Interessanterweise sind die meisten Religionsstifter und Weisen, also die Experten des Glaubens, friedliebende und freundliche Menschen, und Gewalt wird entweder rundwegs abgelehnt oder nur in Ausnahmefällen gestattet, bildet aber keinesfalls den Kernpunkt einer religiösen Lehre. Doch haben die Anhänger dieser Lehren unermesslich viel Blut vergossen, offensichtlich unter Missachtung der eigenen Grundsätze, die mit solchen Untaten verteidigt werden sollten. 

Die Mystiker, also die Experten der Spiritualität (darunter verstehe ich die zentralen Erkenntnisse der Religionen ohne ihr historisches, moralisches und soziales Beiwerk), zeigen den Weg, wie wir aus der Neigung, unsere Glaubensrichtungen mit Feuer und Schwert zu verbreiten und abzusichern, herauskommen. Wiederum geht es um die Innenschau. Wenn wir in uns hineinschauen und unser Denken beobachten, werden wir merken, dass sich da so viel in unserem Kopf abspielt, dass wir mit Fug und Recht alles mögliche über uns behaupten könnten – dass wir Atheisten und Gottgläubige, Materialisten und Spiritisten, Esoteriker und Pragmatiker sind und noch vieles, vieles mehr, wenn nicht überhaupt alles. Der friedlichste Mensch sollte in sich den Gewalttäter finden, wenn er lange genug sucht, der sparsamste den geizigsten, der wohlwollendste den missgünstigsten usw. Und wir brauchen uns vor all den Widersprüchen in uns nicht zu entsetzen, sondern können neidlos anerkennen, dass sich in unserem Kopf ein ganzes Universum befindet, genau das Universum, das wir mit allen anderen Köpfen teilen. Im Leben spielen wir nur diejenigen Teile aus, an die wir uns und unsere Umgebung gewöhnt haben, also jene Rollen, die uns leicht fallen. Wenn wir mal aus der Rolle fallen, fallen wir gleich auf. „Was, du kannst lustig sein?“ „Was, du kannst ernst sein?“

Es liegt also in unserer Natur als denkende Wesen, die wir gesteuert sind von mächtigen Gefühlsmustern, dass wir immer wieder, und besonders dann, wenn wir uns bedroht und geängstigt fühlen, Gegensätze konstruieren und zur Erklärung der Welt verwenden. Konstruktiv können wir dieses Design dazu nutzen, um unser Potenzial zu erweitern und unsere Innenwelt aufzuhellen. Wenn wir einen Schattenaspekt unserer Persönlichkeit, also einen Wesenszug, der uns wenig vertraut ist und den wir gerne bei anderen Menschen ablehnen und kritisieren, in uns selber gefunden haben, fällt eine Gefahr weg, die wir in diese Möglichkeit hineinprojiziert haben, wir sind ein Stück freier. Dann können wir auch anders in der Welt agieren und können überall um dieses Stück mehr einschließen statt auszugrenzen. Bis wir, im Zustand der Vollkommenheit, die ganze Welt mitumfassen, mit all ihren Gegensätzen und Widersprüchen, mit all ihrer Chaotik und Ordnung.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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