14.06.2011

Regel 26 - 1: Alles ist mit allem verbunden

The universe is one being. Everything and everyone is interconnected through an invisible web of stories. Whether we are aware of it or not, we are all in a silent conversation. Do no harm. Practise compassion. And do not gossip behind anyone’s back – not even a seemingly innocent remark! The words that come out of our mouths do not vanish, but are perpetually stored in infinite space, and they will come back to us in due time. One man’s pain will hurt us all. One man’s joy will make everyone smile.
 Das Universum ist ein Wesen. Alles und jedes ist durch ein unsichtbares Gewebe von Geschichten miteinander verbunden. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, wir befinden uns alle in einer stillen Konversation. Füge kein Leid zu. Übe das Mitgefühl. Und schwätze nicht hinterrücks über jemanden – nicht einmal eine scheinbar unschuldige Bemerkung! Die Worte, die aus unserem Mund kommen, verschwinden nicht, sondern sind dauerhaft im unendlichen Raum gespeichert, und sie werden in der richtigen Zeit zu uns zurück kommen. Der Schmerz eines Menschen wird uns allen weh tun. Die Freude eines Menschen wird alle zum Lächeln bringen.

Die Verbindung von allem und jedem war den Menschen der Vorzeit selbstverständlich. Sie ist Teil des tribalen Bewusstseins. Durch das Ausbrechen des Menschen aus der engen Verflochtenheit mit der Natur verflüchtigte sich dieses Wissen und wurde ersetzt durch die Subjekt-Objekt-Beziehung. Die Umwelt wird zum Gegenüber, zum Gegenstand. Sie kann damit in Besitz genommen und ausgebeutet werden. Das ist die Haupterrungenschaft und das Erfolgsprinzip des materialistischen Bewusstseins. 

Die Beherrschung der Welt funktioniert nur, wenn der Respekt vor dem Beherrschten schwindet. Diese Respektlosigkeit ist die Kehrseite der Konsum- und Wohlstandswelt, die sich mehr und mehr ausbreitet. Fatalerweise begrenzt sie sich nicht auf die unbelebte und belebte Natur, sondern zieht sich durch die menschlichen Beziehungen durch. Es kann die historische Entwicklung auch so gelesen werden, dass sich erst durch die Etablierung von Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, durch die in allen hierarchischen Systemen Menschen zu Dingen gemacht wurden, die Verdinglichung der Natur möglich wurde. 

Jedenfalls resultierte daraus die Machtbeziehung zwischen Mensch und menschlicher und nichtmenschlicher Umwelt. Sie ließ das Bewusstsein der allumfassenden Verbundenheit verschwinden, sodass sie uns heute keine Gewissheit mehr ist, sondern allenfalls eine spirituell erfahrbare Möglichkeit. Dem realitätsgetreuen Zeitgenossen mag das wie eine esoterische Spinnerei erscheinen. Wie sagt Rumi: „Die Hand von Moses ist eine Hand und eine Quelle des Lichts. Diese Dinge sind so real wie das Unendliche real ist, aber für einige scheinen das nur religiöse Fantasien zu sein, für jene, die nur an die Realität der sexuellen Organe und des Verdauungstraktes glauben.“ (The Essential Rumi. Translation by Coleman Barks. Harper Collins 2004)

Gewiss ist uns das Getrenntsein: Ich bin ich und sonst nichts, alles Nicht-Ich ist anders und fremd. Diese Haltung haben wir jetzt über Jahrhunderte und Jahrtausende eingeübt. In ihr fühlen wir uns sicher. Doch das andere Wissen speist sich aus den Jahrmillionen davor. In dieser Perspektive betrachtet, herrscht die Auffassung von der Objektbeziehung zur Außenwelt (ich hier, alles andere dort) in der Menschheitsgeschichte nur für einen winzigen Moment. 

Deshalb können wir trotz aller materialistischen Verblendungen auf dieses uralte Wissen nie gänzlich vergessen. Es meldet sich immer wieder leise und schüchtern, vor allem, sobald wir uns in der Natur befinden. Besonders stark merken wir es, wenn unser Leben in eine Krise gerät. Krisen sind meist dadurch gekennzeichnet, dass wir uns abgetrennt fühlen – wir müssen einen Verlust verkraften oder einen Misserfolg verdauen, eine Krankheit überstehen oder sehen uns mit tiefer innerer Verzweiflung konfrontiert. Hinter solchen Erfahrungen steckt der Zustand des Abgetrenntseins, der, wie in der 25. Regel beschrieben, mit der Hölle gleichgesetzt werden kann.

Denn Abtrennung ruft die Vorstellung des Todes wach. Der Tod trennt uns vom Leben, und jede Trennung von einem Aspekt des Lebens ist wie eine Todeserfahrung. Etwas in uns selbst, nämlich ein Teil der Liebeskraft, stirbt dabei ab. Die Liebe ist die Kraft der Verbindung, die sich magisch stärkt aus dem Austausch von Energie zwischen den Wesenheiten.  Sie weiß um die Verbindung von allem mit jedem. Wird sie unterbrochen, so reagieren wir mit Angst.

Wenn wir allerdings diese alles durchwirkende Verflechtung als Netz von Geschichten verstehen, wird das ganze Universum zu einer Sinfonie aus Liebesgeschichten. Jede Verknüpfung eines Ereignisses mit einem anderen ist Teil einer unendlichen Erzählung aus dem großes Buch des Lebens. Alles, was sich mit etwas anderem in offener Verbindung weiß, trägt zur großen Liebe bei. Darin wird ausgetauscht und ausgetauscht, solange, bis unwichtig ist, wer gibt und wer nimmt.

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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