26.06.2011

Regel 33: Die Leere

While everyone in this world strives to get somewhere and become someone, only to leave it all behind after death, you aim for the supreme stage of nothingness. Live this life as light and empty as the number zero. We are no different from a pot. It is not the decorations outside but the emptiness inside that holds us straight. Just like that, it is not what we aspire to achieve but the consciousness of nothingness that keeps us going.

Während jeder in dieser Welt danach strebt, irgendwohin zu gelangen und irgendwer zu werden, um nach dem Tod alles hinter sich zu lassen, setze dir die erhabene Stufe des Nichts als Ziel. Lebe dieses Leben so leicht und leer wie die Nummer Null. Wir sind nicht anders als ein Topf. Es sind nicht die Dekorationen außen, sondern die Leere innen, die uns gerade hält. Einfach so: Was uns am Leben hält, ist nicht, was wir zu vollbringen trachten, sondern das Bewusstsein des Nichts.

Das Nichts und die Leere sind rätselhafte Begriffe, mit denen wir uns im Alltagsleben schwer tun. Alles erscheint uns angefüllt mit Gegenständen, und selbst wenn wir nach oben schauen, ist dort auch etwas, der Himmel. Wie sollen wir auch ein Nichts sehen oder hören, was sollen wir mit einem Nichts anfangen?

Nur wenn wir zu „spekulieren“ beginnen, ändert sich etwas: Wenn wir die Erdatmosphäre verlassen und uns in den Weltraum hinaus bewegen, gibt es nur Leere bis zum nächsten Planeten. Die Physiker erzählen uns, dass die Atome vor allem aus leerem Raum bestehen. Das kann uns schummrige Gefühle bereiten – wie wir da auf unserem vergleichsweise winzigen Planeten durch den leeren Raum sausen, weit und breit sonst nichts und wieder nichts? Oder wie die einfachsten Dinge zusammenhalten sollen, wenn sie so viel Leere enthalten, einschließlich unserer selbst? 

Doch das sind Fragen, die uns nur auf eine Spur führen, ohne dass uns deren Beantwortung auf dem spirituellen Weg weiterhelfen würde. Die Spur liegt in der Verunsicherung und Irritation, die solche Spekulationen auslösen können. Sie unterbrechen die Zyklen der Geschäftigkeit und Aktivität, die unsere Tage füllen, sodass keine Leere vorkommen kann. Sie zeigen uns, dass die uns selbstverständliche Welt nur ein winziger Ausschnitt aus dem ist, was es gibt. Und auch, dass das, was uns selbstverständlich erscheint, nur aus Informationen zusammengesetzt ist, die uns unsere Sinnesorgane liefern.

Wenn wir der Spur folgen, lässt sie uns jenseits unserer Alltagswelt suchen. Wie ist die Welt hinter der Welt unserer Erscheinungen? Wenn hier die Welt voller Dinge ist, könnte es sein, dass die Welt dahinter leer ist?

Die erste Form, in der uns die Leere innerlich begegnet, ist die Langeweile. Sie entsteht häufig, wenn wir aus dem Getriebe des Alltags aussteigen und keine Anforderung auf uns wartet oder keine passende Unterhaltung bereit steht. Auch der Mangel an kreativen Impulsen als Folge von Auszehrung und Erschöpfung durch den Druck des Erwerbslebens kann hinter der Langeweile stecken. 

Wir leiden an der Länge der Zeit, die sich vor uns ausdehnt und verzweifelt nach einer Überbrückung sucht – dorthin, wo wieder Land in Sicht ist. Jetzt gerade „weiß ich nichts mit meiner Zeit anzufangen“, und irgendwann kommt jemand, der mich aus dieser Leere erlösen wird, oder irgendwann wird es ein Ereignis geben, das mich die Leere vergessen lässt, indem es mir Stoff anbietet, der die Leere vertreibt. Wir leben davon, dass uns das Außen mit Inhalten, Aufgaben, Anregungen, Überraschungen anfüllt. 

Wenn nur unser Inneres da ist, wenn wir z.B. die Augen schließen und das Hören und Fühlen nach innen richten, dann finden wir zunächst da auch wieder nur Inhalte von Außen, Gedanken von und über Inhalte der Welt, die durch den Kopf schwirren, von einem Ende zum anderen. Wenn wir uns davon nicht beirren lassen und darauf warten, dass sich der Denksturm legt, wird Stille spürbar, Leere zwischen den Gedanken. Dieses Nichts zeigt sich ohne unser Zutun, und wir erleben es als angenehm und wohltuend. Es will nichts von uns, braucht nichts von uns. Es zeigt uns, dass wir da sind, und da sein können, ohne anders zu sein, als wir sind. Alles ist richtig so, alles ist gut so. Welch eine Erleichterung, welch eine Befreiung darf sich da ausbreiten. Das ist die Lebenskraft, die wir nur in der Leere, in den Zwischenräumen, in der Stille finden können. Sie ist rein, weil sie keinen Inhalten oder Programmen verpflichtet ist, sondern weil sie nur dem Weiterfließen des Lebensstroms dient.

Je leerer wir in unserem Inneren werden, desto einfacher wird unser Leben. Sorgen über etwas, was noch gar nicht eingetreten ist, fallen weg, Belastungen aus der Vergangenheit, die schon überstanden sind, verschwinden, Dinge, die zu tun sind, werden ohne Aufhebens getan, und die Zeiten dazwischen bleiben frei für das Nichts.

Was zu tun ist, wird immer weniger wichtig, weil es um das Tun selbst geht und nicht um das, was damit bewirkt werden soll. Das Eintauchen in das Nichts lehrt uns, dass die Erfolge, nach denen wir dauernd streben, nur Verschönerungen unseres Lebens sind, die nichts mit seiner Essenz zu tun haben. Ebenso sind unsere Misserfolge und Enttäuschungen unwesentlich, sie bilden die weniger gut gelungenen Dekorationen. Bedeutsam sind diejenigen Erfahrungen, die wir mit unserem vollen und klaren Bewusstsein begleiten, und solche Erfahrungen tragen kein Etikett. Sie sind flüchtig und hinterlassen keine Spur; damit machen sie Platz für die nächste Erfahrung. 

Vielleicht gilt das für unsere Existenz genau so – wir können uns als flüchtige Erscheinungen auf diesem Planeten verstehen, die irgendwann in der Leere verschwinden, dann finden sich neue Erscheinungen ein als Platzhalter, bis auch sie wieder in die Leere eingehen, um Platz zu machen...

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen